Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

16. Die Sphären der Werte

Mit der Sphäre des Sinns (siehe vorangegangenes Kapitel) haben wir eine Zwischenzone erreicht: Wohl geht es dabei größerenteils noch um sichtbare Bereiche wie Kirche oder Beziehungen oder Natur, doch das, worum es eigentlich geht, weil daraus der wesentliche Beitrag zu unserer Lebensqualität besteht, ist tatsächlich unsichtbar: Sinn.

Und damit sind wir mitten in den Sphären der Werte gelandet, denn auch Sinn ist ein Wert, jedenfalls dann, wenn wir unter Wert das verstehen, was uns etwas wert, was uns wichtig ist. Werte beschreiben unsere Vorstellungen davon, wie es sein sollte, wie wir es uns wünschen. Sie liefern uns damit Orientierung und Entscheidungshilfe.

Unsere Werte entscheiden sicher nicht allein darüber, wie wir uns entscheiden. Zumal sich da noch die leidige Frage nach dem freien Willen stellt. Manche Gehirnforscher behaupten ja, dieser freie Wille sei eine Illusion, in Tat und Wahrheit seien all unsere so genannten freien Entscheidungen längst durch Biologie oder frühe Prägungen festgelegt. Das ist nicht grundsätzlich falsch, wohl aber in seinem Absolutheitsanspruch.

Der Mensch ist das am wenigsten festgelegte Tier, das heißt, er verfügt über die größten Freiheitsspielräume. Nehmen wir zum Beispiel die Bonobos, die Zwergschimpansen, die mit uns genetisch ziemlich nah verwandt sind, und vergleichen deren Sexualverhalten mit unserem: Beiden Gattungen ist offensichtlich ein ziemlich starker sexueller Antrieb zu eigen, doch während unsere Verwandten diesen Trieb hemmungslos mit Männlein und Weiblein ausleben (müssen), gibt es beim Menschen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen, zwischen denen er auswählen kann, von der dauerhaften Abstinenz bis zur Dauermitgliedschaft im Swinger-Club.

In einem absoluten Sinne ist der Mensch weder frei noch völlig vorbestimmt, es gibt vielmehr bestimmte Bereiche, in denen er die Wahl hat. Und in diesen Bereichen sind unsere Werte wichtig – als Orientierungs- und Entscheidungshilfen. Wobei es uns keineswegs immer bewusst wird, dass wir bei Entscheidungen unsere Werte zu Rate ziehen, dieser Abgleich erfolgt oft unbewusst. Nur wenn man unter freiem Willen ausschließlich bewusst erwogene und gefällte Entscheidungen versteht, ist das ein Argument gegen den freien Willen. Wir dagegen gehen davon aus, dass Werte wichtig und wertvoll sind, auch wenn sie uns nicht immer bewusst präsent sind. So ist es übrigens auch beim schon besprochenen Wert Sinn: In den uns (nachträglich) am meisten mit Sinn gesättigt erscheinenden Situationen denken wir überhaupt nicht an Sinn, und wenn wir bewusst danach suchen müssen, ist er am weitesten weg.

Vom Wert Sinn lernen wir einen grundsätzlichen Zusammenhang: Mehr Sinn bedeutet mehr Lebensqualität. Auch diese Gleichung geht natürlich nicht ewig auf, wenn wir zu viel Energie in die Sinn-Suche stecken, fehlt uns diese in anderen Lebensqualitäts-Sphären. Doch abgesehen davon gilt: Je besser wir unsere Werte verwirklichen können, desto besser ist unsere Lebensqualität.

Wenn Werte einen Idealzustand beschreiben, dann kann unsere reale Situation diesem Ideal mehr oder weniger nahe kommen. Je näher wir am Idealzustand sind, desto besser haben wir unsere Werte verwirklicht, und umso besser ist unsere Lebensqualität. In diese Formel müssen wir allerdings noch die unterschiedliche Gewichtung einzelner Werte einfließen lassen. Wenn ein Wert uns sehr wichtig ist, bringt seine Realisierung einen höheren Zuwachs an Lebensqualität als bei einem weniger wichtigen Wert.

Damit sind wir bei einem Phänomen, das eigentlich selbstverständlich ist und dennoch leicht übersehen wird: Es gibt unterschiedliche Werte von unterschiedlicher subjektiver Bedeutung. Ihre Werte sind also nicht automatisch auch meine Werte – und umgekehrt. Ignorieren wir diese potenzielle Diskrepanz, entstehen daraus leicht wüste Kommunikationsstörungen.

Tatsächlich gehört das Wort Wert zu jenen, die gerne nur im eingeschränkten Sinne verwendet werden, frei nach dem Motto „Werte sind das, was ich (oder meine Gruppe) dafür hält.“ Christliche Fundamentalisten etwa setzen Werte gleich mit einer konservativen Sexualmoral. Und wenn man den Verursachern der Finanzkrise vorwirft, sie hätten keine Werte gehabt, so stimmt das nicht. Sie haben sich sehr wohl an Werten orientiert – nur leider an den falschen.

Wir dagegen wissen, dass auch die Werte, die für unsere Lebensqualität wichtig sind, eine höchst subjektive Landschaft bilden. Und deshalb sollten wir uns nicht durch einen eingeschränkten Werte-Begriff einengen lassen, sondern den Trichter der für uns möglicherweise wichtigen Werte zu Beginn möglichst weit öffnen.

Das führt uns allerdings in arge Komplexitäts-Probleme. Ich habe mal versucht, mögliche Werte zu formulieren, und bin, ohne den Anspruch, bereits wirklich vollständig zu sein, auf eine Liste mit nicht weniger als 175 Einzel-Werten gekommen. Freundlicherweise haben ein paar hundert Menschen in einem entsprechenden Fragebogen diese 175 Einzel-Werte nach ihrer subjektiven Bedeutung eingestuft. So konnte ich sehen, ob es in dieser kaum mehr zu überblickenden Menge an Werten so etwas wie Muster oder Strukturen gibt, bestehend aus Werten, die gehäuft gemeinsam auftreten.

Solche Muster gibt es, doch sie helfen nur bedingt bei der Reduktion der vorhandenen Komplexität. Statistische Analysen liefern zwar erste Ahnungen von Mustern, doch um daraus sinnvolle Sphären zu bilden, braucht es zusätzlich eigene Überlegungen – und die wiederum können nicht anders sein als subjektiv. Wenn ich also im folgenden acht Lebensqualitäts-Sphären im Bereich der Werte (und eine neunte, gleichsam übergeordnete) präsentiere und beschreibe, dann nicht im Sinne einer endgültigen Kartographie, sondern als Vorschlag einer Einteilung, die unumgänglich ist, wenn wir uns in den komplexen Werte-Landschaften wenigstens vorläufig zurecht finden wollen.

Eine erste grobe Einteilung der Werte-Sphären ergibt sich, wenn wir die einzelnen Werte nach ihrer Reichweite differenzieren. Wenn wir unser natürliches Weltbild zu Grunde legen, bei dem unser Ich immer im Zentrum steht, lassen sich drei zwiebelförmige Schalen unterscheiden:

Die innere Schale wird gebildet von allen Werten, die direkt uns selbst betreffen. Hier können wir Werte gleichsetzen mit persönlichen Lebenszielen. Und davon gibt es reichlich, wovon Sie ein Blick in Ihr eigenes Inneres leicht überzeugen dürfte. Diese Lebensziele oder persönlichen Werte lassen sich formulieren mit „dass ich ...“ oder „dass mein Leben ...“.

Die mittlere Schale besteht aus Werten, die das zwischenmenschliche Zusammenleben und den Umgang miteinander betreffen. Mit diesen Werten beschreiben wir, was wir von unseren Mitmenschen erwarten – und wie wir selbst sein möchten. Diese zwischenmenschlichen Werte lassen sich mit Persönlichkeitseigenschaften wie „authentisch“ oder „loyal“ formulieren.

Die äußere Schale schließlich besteht aus Werten, welche die ganze Gesellschaft betreffen, beschreiben also so etwas wie eine gewünschte ideale Gesellschaft, nach dem Muster „dass Frieden herrscht“ oder „dass wir auch an die nächsten Generationen denken“.

Unsere Lebensqualität hängt sicher (fast) immer von der Verwirklichung unserer Lebensziele, also unserer persönlichen Werte ab (erste Schale), und nur etwas weniger von der Realisierung unserer zwischenmenschlichen Werte (zweite Schale). Das gilt für (fast) alle Menschen. Der Einfluss der dritten Schale, also der gesellschaftlichen Werte, ist jedoch verschieden. Manche Menschen machen ihre eigene Lebensqualität fast vollständig von derjenigen der ganzen Welt abhängig, anderen dagegen ist es völlig wurst, wie die Lebensqualität der Welt aussieht, Hauptsache, ihre eigene stimmt...

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Cocktail-Mixer

Ich empfinde es als Kompliment an meinen Geist, wenn andere meine Sprachbilder und Wortschöpfungen klauen – selbst wenn sie dabei „vergessen“, ihre Quelle zu nennen. So geschehen auch im Falle von „Werte-Cocktail“.

Ein Cocktail ist bekanntlich ein Gemisch aus verschiedenen Flüssigkeiten, wobei der Geschmack von zwei Faktoren abhängt: Auswahl der Zutaten und deren Dosierung. Die Kunst des Barmixers hinter der Theke besteht also darin, die richtigen Zutaten im richtigen Mengenverhältnis zu mischen. Sekundär ist, ob dies gerührt oder geschüttelt geschieht, das interessiert allenfalls Snobs wie James Bond.

Das Angebot an Werten, aus denen wir unseren persönlichen Werte-Cocktail zusammenmischen, ist ebenso vielfältig und unübersehbar wie die Auswahl an Flaschen in einer gut bestückten Bar. Nur gibt es leider keinen Barmixer, der uns hilfreich zur Seite steht. Den Werte-Cocktail, den wir im Laufe unseres Lebens schlürfen, müssen wir auch noch selber mixen.

Was heißt hier müssen? Für mich war und ist es ein Dürfen. Wer sollte besser wissen als ich selbst, welcher Werte-Cocktail mir schmeckt und für mich bekömmlich ist? Und wieso sollte ich mich beim Mixen meines Werte-Cocktails auf Rezepte verlassen, die dem Geschmack anderer entsprechen, keinesfalls aber unbedingt meinem? Ich habe also die Freiheit, Werte-Zutaten auszuwählen, die gerade nicht im Trend sind. Ich kann Werte kombinieren, die angeblich nicht zusammen passen. Und ich kann Werte so hoch oder so niedrig dosieren, dass sie meinem Geschmack entsprechen, auch wenn „man“ das nicht macht.

Das führt dann zu einem Werte-Cocktail, den es genau gleich vermutlich kein zweites Mal gibt. Und das ist gut so. Wo und wie könnten wir unsere Individualität, unsere unverwechselbare Einzigartigkeit, besser erleben und ausleben, als beim Mixen unseres ganz persönlichen Werte-Cocktails?

Innerliche Werte-Uniformen hat die Menschheit lange genug getragen. Dass wir jetzt frei entscheiden können, in welche Werte wir uns hüllen, ist als enormer zivilisatorischer Fortschritt zu betrachten. Für mich jedenfalls ist diese Freiheit noch wichtiger als die Wahlfreiheit in Sachen Bekleidung.

Natürlich besteht bei solchen Individualisierungs-Tendenzen immer die Gefahr der Vereinzelung und damit des abgebrochenen Gesprächs über Werte. Zu den eigenen Werten zu stehen, ist für mich deshalb nicht gleichbedeutend damit, die Werte der anderen zu ignorieren. Meine Forschungsbemühungen, die Werte von Menschen besser kennen zu lernen und zu verstehen, sind deswegen immer auch ein Versuch, eine Basis für das Gespräch über unterschiedliche Werte zu schaffen. Schließlich kann man seinen Lieblings-Cocktail haben und zugleich gelegentlich an einem anderen nippen.

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