Gigerheimat: Reife
Reife macht Sinn

 

Reife macht Sinn

Bilder und Photographien von Andreas Giger - eine Vorschau

Titelblatt und Rückseiten-Text:

 

 

 

Die Idee von Reife ist genau das: eine allgemeine Richtungsangabe für Entwicklungsprozesse. Reife ist das am Anfang noch verborgene Potenzial, das sich im Laufe der persönlichen Evolution allmählich ent-wickelt. Indem die Idee der Reifung eine befriedigende Antwort auf die existenzielle Grundfrage "wohin gehe ich?" bietet ("hin zur Reife"), stiftet sie, nicht nur, aber vor allem für die zweite Lebenshälfte, Identität: Ich reife, also bin ich.

Reife macht Sinn

Texte und Photographien von Andreas Giger

   

Beispiel für ein Kapitel:

Reifende Reifung

Unglaublich dicke Äste von Eichen und Ulmen brennen im Kamin mit einer Leichtigkeit, als ob sie ihr ganzes langes Leben lang auschließlich zu diesem Zweck herangereift wären. Aus den Lautsprechern der mitgebrachten Musikanlage erklingen seltsame Töne, so genannte Naturjodel aus der Ostschweiz, der Gegend, in der ich lebe. Es sind langgezogene Klänge ohne Text, archaisch anmutend und gleichzeitig vertraut, voll Melancholie über das harte Leben in einer Gegend, in der nichts als Gras wächst, und zur selben Zeit voll intensiver Lebensbejahung.

Sie gehört nicht hierher in die Toskana, diese Musik, und doch erscheint sie mir, wie sie so über diese Landschaft aus rollenden Hügeln schallt, wunderbar fremdartig passend, ein Eindruck der von meinen Mitgästen geteilt wird, obwohl sie diese Klänge vorher nie gehört hatten. Es sind reifere Menschen, welche aus Erfahrung wissen, dass sich die in der Jugend starren Maßstäbe dafür, was gute und passende Musik sei, aufweichen und so den Raum für neue Musikerlebnisse öffnen können.

Meine Kaminlektüre ist ein von mir selbst vor etwa zehn Jahren verfasstes Manuskript. Damals, ich war rund vierzig Jahre alt, hatte ich ein Sachbuch mit dem Titel "Rundum reif. Eine Vision des älter Werdens" ungefähr zur Hälfte fertig geschrieben. Das Projekt kam ins Stocken und wurde schließlich auf die Halde des irgendwann zu Recycelnden abgelegt.

Vielleicht habe ich damals die Antwort eines Verlages, dem ich das Projekt angeboten hatte, doch ernster genommen, als ich dachte: Ob es nicht ein bisschen arrogant sei, in meinem noch ziemlich jugendlichen Alter über das älter Werden zu schreiben ? Und vielleicht habe ich auch einfach gespürt, dass das Thema Reife noch nicht reif war. Jedenfalls habe ich das Manuskript für etliche Jahre völlig vergessen.

Selbst als mich ganz andere berufliche Pfade zu Projekten mit älteren Menschen und damit zum Thema Reife geführt hatten, dauerte es eine ganze Weile, bis ich mich wieder daran erinnerte. Und dann noch eine hübsche Zeit, bis ich mich getraute, es wieder zu lesen.

So viele Erinnerungen wir im Laufe eines langen Lebens ansammeln, so wenig vermögen sie uns ein präzises Bild dessen zu vermitteln, was einstmals wirklich war. Das liegt zum einen daran, dass wir uns unsere Erinnerungen laufend neu gestalten, zum anderen aber auch, dass wir immer nur verdichtete Spuren haben, nie die Erinnerung an die ganze Fülle des Gewesenen.

Wer viel schreibt, hat hier ein Privileg. Er oder sie kann lesen, was vor vielen Jahren verfasst wurde, und erhält so einen vertieften Einblick in die damalige Gedankenwelt. Das kann auch ein bisschen nervös machen, es könnte ja schließlich allerhand noch nicht Ausgegorenes auftauchen, mit dem man heute nicht mehr so gerne in Verbindung gebracht würde...

In meinem Falle brauchte ich mich des damals Geschriebenen nicht zu schämen. Es klang alles vernünftig und wohl formuliert, auch wenn im Tonfall die Gärungsprozesse der mittleren Lebensjahre spürbar waren und zu einer gewissen weit schweifenden Geschwätzigkeit führten. Nichtsdestotrotz habe ich mir für einen Moment überlegt, den vorhandenen ersten Teil sanft zu überarbeiten und darauf aufbauend den zweiten zu schreiben.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich merkte, dass dieses Vorhaben nicht wegen des Inhalts nicht allzu viel Sinn machen würde, sondern wegen der Form, oder besser, wegen der fehlenden Übereinstimmung von Thema und Form. Die klassische Form des Sachbuchs gibt nämlich eine ganz bestimmte Art der Wahrnehmung und des Denkens vor: Man beginnt ein solches Buch am Anfang und liest es Seite für Seite bis zum Schluss durch, weil das, was jeweils folgt, auf dem bereits Gelesenen aufbaut und dies weiter führt, Schritt für Schritt, manchmal auf Umwegen, aber immer vorwärts.

Auf den ersten Blick sieht das aus wie die Beschreibung eines idealen Reifungsprozesses: aus dem Vorhandenen heraus weiter entwickeln, auf manchmal verschlungenen Pfaden, aber immer in allgemeiner Richtung Reife vorwärts. Doch den abstrakten idealen Reifungsprozess gibt es höchstens als statistische Summe vieler sehr individueller Reifungsprozesse.

In diesen individuellen Reifungsprozessen mag es gemeinsame Elemente geben, doch diese treten in unterschiedlicher Reihenfolge und in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Es gibt kein gemeinsames Drehbuch für Reifung, das schön Szene für Szene abgespult werden kann. Die lineare Erzählung einer Reifung beschreibt immer nur den Einzelfall und hat für die nicht direkt Betroffenen, also für Sie, deshalb auch nur begrenzte Bedeutung als Impulsgeber für die eigene Reifung.

Ergiebiger ist es, Reifung als einen Prozess mit vielen Facetten zu betrachten, die man sich nicht in einer vorgegeben Reihenfolge anschauen muss, sondern aus denen man auswählen kann, nach Lust und Laune, nach dem Prinzip "was gerade am nächsten liegt, kommt zuerst dran" oder auch nach dem puren Zufallsprinzip. Reife Menschen sind anspruchsvoll, sie wollen sich ein eigenes Menü zusammenstellen statt eine vorgeschriebene Speisefolge abzuessen.

Und sie wollen auch keinen Einheitsbrei aus Worten und Sätzen, sondern in Lesepausen auch auf anderen Sinneskanälen angesprochen werden, etwa dem Sehen von Bildern, die nicht der Illustration des Textes dienen, mit diesem aber auf einer tieferen Ebene dennoch in Beziehung stehen und so die eigenen weiterführenden Gedanken zu Reife und Reifung anregen.

Die Zeit für Reife ist herangereift, meine eigenen Gedanken und Bilder zu Reifung sind es auch. Fertig ausgereift werden sie nie sein, aber vielleicht vermögen sie auch im jetzigen Reifestadium Ihrem eigenen Reifungsprozess die eine oder andere so noch nicht gesehene Bedeutung zu verleihen.

 

Ein weiter Beispiel-Kapitel und die Fortsetzung der Zusammenfassung finden Sie hier.

 

 

Neu: Aus dem Buchprojekt ist ein kultivierter und konzentrierter Privatdruck geworden. Mehr dazu hier.

 

Zusammenfassung der köstlichen "Lese-Schau" durch Edmond Tondeur:

Anmerkung des "Zusammenfassers":

Dies ist keine Verdichtung, schon eher eine "Verdünnung" des opus von Andreas, das ja in sich eine bild-textliche Verdichtung ist. Für mich ist die Zusammenhang ein kognitives Hilfsmittel für die bearbeitende Diskussion.

Edmond Tondeur

Umschlagstext

Reife als Richtungsangabe für Entwicklungsprozesse. Reife ist das am Anfang noch verborgene Potenzial, das sich im Laufe der persönlichen Evolution allmählich ent-wickelt. "Wohin gehe ich?" "Hin zur Reife" ... Ich reife, also bin ich.

Reifende Reifung

Es gibt nur individuelle Reifungsprozesse, kein allgemein gültiges "Drehbuch für Reifung". Und diese Reifungsprozesse sind weder linear noch verbal umfassend beschreibbar. Wir reifen mit allen Sinnen, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.

Reife macht Sinn

Alle wollen alt werden (d.h. nicht sterben), doch niemand will alt sein. Nun aber hat sich dies — von der Lebenserwartung her — dramatisch geändert. Der Lebensabend hat sich in kürzester Zeit enorm verlängert, bei voller Erhaltung des Lichts (Vitalität). Die Wahrnehmungskategorie namens ‚Alter’ ist unstimmig, ja unbrauchbar geworden.

Leben bedeutet Wandel und Veränderung, eine Folge von Lebensphasen, die je ihre eigene, besondere Qualität haben. Wir müssen nicht nur älter werden — wir können auch reifer werden. Gerade darin könnte der Sinn des älter Werdens liegen. Dazu ist allerdings Eigeninitiative gefragt.

Jahrringe

Bei Bäumen finden wir sie als Spuren der Zeit faszinierend, die Falten am eigenen Leib jedoch sind uns zuwider. Falten waren schon einmal sexy, und sie könnten es wieder werden. Schönheiten der Landschaften, der Erosionen und Sedimentierungen. Auch der menschliche Körper kann als Landschaft betrachtet werden. Der Zuwachs an Jahrringen kann intensivierte Lebendigkeit bedeuten.

Fliessmuster

Je älter wir werden, desto länger wird die Strecke unseres Lebensflusses, die wir überblicken können. Das ermöglicht es uns, Muster, Sinn und Bedeutung nicht nur in einzelnen Ereignissen zu erkennen, sondern im Fliessmuster des ganzen bisherigen Lebens.

Reifung bedeutet demnach auch die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Differenzierung. Wir unterscheiden zwischen Fliessmustern, die unsere ganz persönlichen sind, unseren Eigensinn ausmachen, und solchen, die allen Menschen gemeinsam sind.

Wasser ist unablässig in Bewegung, muss es bleiben, um nicht faulig zu werden. Und nie zeigt Wasser die gleichen Fliessmuster. Wellenreiten wird zum zeitgemässen Bild für Lebenskunst

Kein Wassertropfen gleicht exakt dem anderen, jeder zeigt beim Trocken seine nur für ihn charakteristischen Muster.

Reifende Beziehungen

Tempora mutantur, et nos mutamur in illis. Dies ist heute teils selbstverständlich, teils der ‘Skandal’ einer Epoche, die nur noch dem Wandel zu frönen scheint, während wir zugleich nach Mustern und Zusammenhängen, Sinn und Bedeutung dürsten.

Ich reife, also bin ich — dies die Idee, evolutionäre Prozesse hätten so etwas wie eine allgemeine Entwicklungsrichtung.

Bis hin zur Co-Evolution in Paarbeziehungen. Wobei Evolution in gewisser Weise stets Co-Evolution ist, immer im Austausch mit andern, mit der Umwelt geschieht.

Co-Evolution heisst Reifung durch Auseinandersetzung mit dem anderen. In diesem Prozess reift auch die Beziehung.

Reife als Ressource

Von selbst ist Reife keine Kraftquelle; erst wenn wir ihr Sinn geben und sie als innere Kraftquelle zulassen, beginnt sie als Ressource zu wirken.

Reife bedeutet die Existenz eines vielfältigen Erfahrungswissens, aus dem immer wieder gelernt wird..

Wissen bedeutet immer auch, Informationen in einen Kontext einordnen zu können, ihnen Bedeutung zu geben. Dieses "interpretierende" Wissen veraltet nicht, es wird vielschichtiger, reifer.

Reife ist nie der Zustand, in dem wir uns befinden, sondern immer der Horizont, auf den wir uns zu bewegen.

Ist Reife langweilig?

Buddha war ein Mann in reiferen Jahren, als er seine Erleuchtung hatte und sie mit anderen zu teilen begann. So kommt uns das Lächeln des Buddha mit seiner Mischung aus vollkommener Distanz mit ebenso vollkommener Güte vor wie der perfekte Ausdruck von Reife: Siddhartas stilles Sitzen am Ufer des Flusses. Widerspricht dieses Bild der Vorstellung von Vitalität in älteren Jahren, ist es gar "abgehoben" und bewegungslos?

Frische ziemt sich für das Bier, Reife für den Wein!

Wahrscheinlich ist in den späteren Lebensphasen weniger los als in den früheren. Doch kann gerade dieses Weniger an Quantität ein Mehr an Qualität bedeuten. Reifung = Wachstum an Lebensqualität.


Dieses Buch sucht noch seinen Verleger - oder Sponsor - oder Mäzen. Wenn Sie jemanden kennen, und sei es Sie selbst, lassen Sie es moch doch unbedingt per Mail wissen...


 

 

 

 

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