Die Zukunft gehört den Eigensinnigen
Zu diesem Thema gibt
es jetzt ein ganzes Buch: EigenSinn
macht Sinn
In einer Welt, die nach wie vor von
starken Individualisierungs-Tendenzen geprägt ist, wächst
der Bedarf nach Produkten, Dienstleistungen und Marken mit dem gewissen
unverwechselbaren Eigenen. Solche Angebote können nur von eigensinnigen
Menschen entwickelt werden. Europas Zukunftschance liegt deshalb in
der bewussten Pflege einer Kultur des EigenSinns.
Megatrend EigenSinn
Meine Mischung aus essayistischer Gesamt- und
Innenschau, noch dazu illustriert mit eigenen Fotografien, ist zweifellos
eigenwillig, um nicht zu sagen, eigensinnig. Damit erfüllt dieses
mein Produkt die Anforderungen der heutigen Konsumwelt: Durch etwas
unverwechselbares Eigenes weckt es Aufmerksamkeit. Es hat lange gedauert,
bis ich realisiert habe, dass in meinem Fall die Mischung das Eigene
macht. Das bedeutete, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, auf
einem einzelnen Gebiet wirkliche Spitzenleistungen zu erbringen. In
einem Mischwald gedeihen nun mal nicht dieselben Spitzengewächse
wie in einer Monokultur. Doch für mich ist ein Mischwald intellektuell
wie ästhetisch befriedigender als eine Monokultur, und ergibt
deshalb auch mehr Sinn. Meinen eigenen.
Die Gilde der Zukunftsforscher ist sich darüber
einig, dass es nur eine Handvoll eigentlicher Megatrends gibt. Ein
Megatrend wird verstanden als eine Grundwelle der gesellschaftlichen
Entwicklung, die weder aufzuhalten noch umzulenken und deswegen mindestens
ein paar Jahrzehnte lang wirksam ist, und zwar in allen Lebensbereichen
und global. So werden die meisten Gesellschaften älter, gebildeter,
weiblicher, globaler und eben individualistischer.
Auch dieser Megatrend ist, was manche erstaunen
mag, global. Selbst in den traditionellerweise stärker kollektiv
orientierten Kulturen des Ostens gibt es Anzeichen dafür. Am
ausgeprägtesten wirksam ist der Megatrend Individualisierung
jedoch dort, wo er her stammt: im guten alten Europa.
Individualisierung bedeutet im Kern, dass wir
von Lebensverwaltern zu Lebensgestaltern werden, die statt vorgespurten
Lebensläufen zu folgen selbst über Ziele und Wege entscheiden
können und müssen. Das gilt für Berufswahl und
Freizeitgestaltung ebenso wie für die Wahl der eigenen Werte
oder einer geeigneten Form des Zusammenlebens.
Individuelle Lebensgestaltung hat auch Konsequenzen
für unser Konsumverhalten. Statt das haben zu wollen, was alle
wollen, möchten wir nun unser Eigenes konsumieren, möglichst
gut auf unsere individuellen Wünsche und Bedürfnisse abgestimmte
Produkte und vor allem Dienstleistungen. Nicht mehr Massenproduktion,
sondern Maßanfertigung treibt deshalb die Wirtschaft von morgen
an. Wählerischer werden wir ebenso bei der Wahl unserer Lieblingsmarken.
Profillose Allerweltsmarken interessieren uns nicht mehr, wir wollen
Marken, die etwas unverwechselbares Eigenes ausstrahlen. Weil wir
uns immer mehr zu einzigartigen Individuen entwickeln, wollen wir
auch einzigartige Marken als Marktpartner.
Jeder Barkeeper weiß, dass nicht die Zutaten
die Einzigartigkeit seiner Drinks ausmachen, sondern deren Mischung.
Innovationen erfinden selten das Rad neu, aber sie sorgen dafür,
dass schon vorhandene Zahnräder auf neue Weise ineinander greifen.
Das Geheimnis von EigenSinn liegt in einer unverwechselbaren Mixtur
aus Zutaten, die allen zur Verfügung stehen. Der Bedarf nach
solchen eigensinnigen Angeboten und Marken wächst. Unaufhörlich.
Wer produziert EigenSinn?
"Wer sich
das Denken abnehmen lässt, dieses einzig absolut Eigene, was der
Mensch besitzt, mit dem ist es aus." Diese Notiz fand sich im Nachlass
meines Vaters, der ein einfacher Mann ohne höhere Bildung war und
nichtsdestotrotz höchsten Wert auf geistige Unabhängigkeit
legte. Vielleicht gibt es ja so etwas wie ein Gen für EigenSinn.
Dann wäre es mir vorbestimmt gewesen, mich kraft meines freien
Willens für ein eigensinniges Leben zu entscheiden. Ein vertrackter
Widerspruch, fürwahr. Doch EigenSinn lebt nun mal nicht nur mit
vertrackten Widersprüchen, sondern geradezu von ihnen.
Dass wir Europäer bei der Produktion von
standardisierten Massengütern im globalen Konkurrenzkampf nicht
die besten Karten haben, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Obwohl
es Ausnahmen gibt, die Swatch zum Beispiel. Allerdings beruht deren
Erfolg weniger auf dem Produkt an sich, sondern auf weichen Faktoren
wie Design und Markenführung. Diese weichen Faktoren ergeben
den Unterschied zur Konkurrenz.
Eine alte Volksweisheit liefert so die Devise
für Europas Zukunft: Vive la différence! Oder in der etwas
bescheideneren Übersetzung: Es lebe der kleine Unterschied. Er
genügt meist, um die Aura des unverwechselbaren Eigenen zu erzeugen
und sich damit entscheidend von der Konkurrenz abzuheben. Ohnehin
bleibt uns gar keine andere Wahl: Wir werden von der Erzeugung von
Unterschieden leben müssen.
Schon spricht die Gesellschaftsdiagnostik von
einer neuen Kreativen Klasse, deren einziger Sinn und Zweck es ist,
Unterschiede zu produzieren. Neu daran ist, dass man die Angehörigen
der Kreativen Klasse nicht nur in den klassischen kreativen Bereichen
wie Kunst und Kultur oder Marketing und Kommunikation findet, sondern
auch in Wissenschaft und Technik, im Gesundheitssektor oder bei Non-Profit-Organisationen.
Denn um Unterschiede geht es nicht nur bei der Produktion von Gütern
oder Dienstleistungen, sondern auch bei der Gestaltung von Prozessen
oder Wissenssystemen.
Die kleinen, aber feinen Unterschiede sind es,
welche auf allen Gebieten Innovationen erzeugen. Wer aber erzeugt
die Unterschiede? Doch wohl nur jemand, der nicht nur in seiner Arbeit,
sondern in seinem ganzen Leben die Unterschiede schätzt und deshalb
pflegt. Jemand, der auf Eigenständigkeit steht. Jemand, der geistige
Unabhängigkeit als hohen Wert betrachtet. Und jemand, der EigenSinn
nicht als Vorwurf empfindet, sondern als Kompliment.
Indoor-EigenSinn
Zu den bescheidenen Erkenntnissen meines eigensinnigen
Lebens gehört die Einsicht, der tiefste Sinn der menschlichen
Freiheit bestünde darin, dass wir selbst unserem Leben nicht
nur eine Richtung, sondern auch einen Sinn geben können. Oder
noch besser mehrere Sinne. Als Sinnquellen stehen uns dafür eine
Vielzahl offen: Das eigene Innenleben und unsere Beziehungen. Gott
und die Natur. Die Philosophie und unsere eigene Geschichte. Und noch
einiges mehr. Und wir können daraus wählen und uns unsere
ganz eigene Sinn-Mischung zusammenstellen. Unseren EigenSinn. Je länger
ich lebe, desto mehr betrachte ich diese Möglichkeit als Geschenk,
für das ich dankbar bin.
Bei allem gebührenden Respekt vor Teamarbeit:
Kreative, einen Unterschied erzeugende Ideen entstehen zunächst
immer in einem einzelnen Kopf. Womit dessen Beschaffenheit, oder besser,
sein Innenleben, zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird. Ein stromlinienförmiger
Geist produziert nun mal keine Innovationen, denn Unterschiede haben
immer Ecken und Kanten.
Eigenwilligkeit im äußeren Leben mag
einem innovativen Geist auf die Sprünge helfen, doch ohne EigenSinn
im Innenleben hilft alles nichts. Da trifft es sich gut, dass sich
der Schauplatz der Individualisierung ohnehin gerade von der Bühne
der äußeren Welt in unsere Innenräume verlagert. EigenSinn
wird mehr und mehr zu einer Indoor-Veranstaltung.
Selbstverwirklichung etwa, längst als Luxusmarotte
unterbeschäftigter Managergattinnen entsorgt, ist als Wert mit
hohem Ansehen zurückgekehrt, doch findet sich Selbstverwirklichung
eben nicht mehr in Selbstinszenierungen auf allen möglichen Bühnen
dieser Welt, sondern in einer verstärkten Hinwendung zum eigenen
Innenleben, zu den eigenen Ideen und Gedanken, aber auch zu den eigenen
Taelnten, Wertvorstellungen und Lebenszielen. Sich selbst, also sein
unverwechselbares Eigenes, leben zu können, ist Selbstverwirklichung.
Auf einer tieferen Ebene findet sich zunehmend
die Erkenntnis, dass auch nur wir allein unserem Leben einen Sinn
geben können. Externe Sinnspendeagenturen wie Kirche oder Nation
haben ausgedient. Stattdessen finden wir LebensSinn in unserer eigenen
Geschichte und in unserem eigenen Innenleben nebst in unseren
Beziehungen und in einer Reihe von anderen Sinnquellen.
Da wir Menschen für unsere Psychohygiene
so etwas wie Sinn brauchen, ist die Erschließung eines eigenen
Sinns eine unverzichtbare Ressource. Und zwar nicht nur für das
Individuum, sondern auch für die Gesellschaft: Nur wer über
EigenSinn verfügt, kann den EigenSinn seiner Mitmenschen akzeptieren
und respektieren. Und nur Eigensinnige können eigensinnige Ideen
produzieren, die den kleinen, aber entscheidenden Unterschied ausmachen.
Für eine Kultur des EigenSinns
In Schubladen habe ich mich immer äußerst
unwohl gefühlt. Und obwohl ich es immer wieder mal versucht habe,
mich in Institutionen einzufügen, hat das nie wirklich geklappt,
weshalb ich es eines Tages gelassen habe. Um dann neulich über
ein Zitat von Steve Wozniak, dem Erfinder des ersten Apple-Computers,
zu stolpern, der seine Erfahrungen mit EigenSinn in eine Empfehlung
an kreative Einzelgänger münden lässt: ªAm besten
sollte man sich von großen Unternehmen fernhalten, um seinen
Traum zu verwirklichen. Wer jung ist und die Welt mit seinen Erfindungen
verändern will, sollte sich von niemandem sagen lassen, was möglich
ist.´ Wozu hinzuzufügen wäre, dass das nicht für
Unternehmen gilt, sondern auch für Universitäten oder politische
Gremien.
Europa braucht mehr EigenSinn und mehr Eigensinnige.
Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, hat doch die kulturelle
Evolution das Mem vom Wert des Individuums im Biotop Europa besonders
gehegt und gepflegt. Lange genug hat es gedauert, bis wir erkannt
haben, dass Vielfalt nicht das Problem, sondern die Lösung ist.
Doch dabei hat sich eine Kultur des Unterschieds und des EigenSinns
entwickelt, auf der wir aufbauen können.
Auf der geografisch-politischen Ebene braucht
es uns um dieses Erbe nicht bange zu sein. Das zusammenwachsende Europa
schärft im Gegenteil den Blick dafür, dass die Insel Europa
aus unzähligen Inseln in der Insel besteht, alle wieder etwas
anders, und erhöht die Wertschätzung für diese eigensinnigen
Eigenheiten.
Etwas weniger rosig sieht es auf der wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Ebene aus. Hier gibt es beispielsweise starke
Tendenzen, Ausbildungsgänge immer mehr zu standardisieren und
zu formalisieren. Und kaum entsteht ein neuer Berufszweig, gibt es
alsogleich Verbände und Institutionen, die reglementieren und
katalogisieren. All das erzeugt Abschottung und Einengung, weshalb
sich die wirklich Eigensinnigen in größeren Institutionen
selten wohl fühlen und außen vor bleiben.
Das müsste nicht sein. Wohl dürfte der
Trend zur Standardisierung meistens unvermeidlich sein, doch auch
eine im Inneren voll formalisierte Institution kann sich offene Ränder
schaffen, in denen ein Austausch mit den Eigensinnigen von außerhalb
möglich wird. Wobei es wohl wieder die Eigensinnigen selbst sein
werden, die Vorschläge für solche durchlässige Ränder
einzubringen haben.
So wie es natürlich ohnehin hauptsächlich
bei den Eigensinnigen selbst liegt, wie weit sich eine Kultur des
EigenSinns entwickelt: Wenn sie und ihr Leben glaubwürdig und
echt wirken, wenn sie Souveränität und Gelassenheit ausstrahlen,
ohne die Freude am Leben zu vernachlässigen, dann werden sie
automatisch zu attraktiven Leitbildern. EigenSinn kann sehr ansteckend
sein.
Eigensinn macht Freude
Ich käme nie auf die Idee zu behaupten,
EigenSinn sei kostenlos zu haben. Doch die Freiheit nehm ich mir,
im Wissen darum, dass es schon immer etwas teurer war, einen besonderen
Geschmack zu haben. Schließlich ist die Erfahrung, eigensinnig
unterwegs zu einem eigenen Sinn zu sein, unbezahlbar. Und der Spaßfaktor
kommt dabei auch nicht zu kurz, wie ein Zitat von Hermann Hesse, einem
anderen Experten in Sachen EigenSinn, zeigt: ªGegen die Infamitäten
des Lebens sind die besten Waffen: Tapferkeit, Eigensinn und Geduld.
Die Tapferkeit stärkt, der Eigensinn macht Spaß, und die
Geduld gibt Ruhe.´
Der gute alte Hesse konnte natürlich nicht
wissen, dass Spaß heut zu Tage nicht zu den angesehensten Begriffen
zählt. Wenn wir aber "Spaß" durch "Freude"
ersetzen, ist das eine gute Botschaft. Wenn wir Freude an einer Tätigkeit
haben, sind wir bekanntlich am besten. Eigensinniges Tun, das Freude
macht, wird also entsprechende Resultate zeitigen.
Dass Tapferkeit und Geduld zu den unabdingbaren
Reisebegleitern von Eigensinnigen gehören, versteht sich von
selbst. Und sollten diese mal wieder des Trostes bedürftig sein
ob der Anfechtungen der Welt, die EigenSinn eben doch (noch) nicht
so schätzt wie sie sollte, dann können sie sich am Gedanken
aufrichten, dass ihnen die Zukunft gehört, weil sie Europas Mehrwerte
schöpfen werden, wirtschaftlich wie kulturell. EigenSinn ist
Europas ureigenster Sinn.