Dieser Beitrag
erscheint als Lead-Artikel in "Marketing&Kommunikation",
Januar 2006. Sinnspruchkarten mit Bildern und Texten von AG.
Die
Praxisrelevanz von Trend-Säuen
Ein
paar grundsätzliche Gedanken über Wesen und Sinn von Trends
anzustellen, kann mehr Praxisrelevanz für das Marketing bedeuten,
als hektisch jeder Modeströmung nachzujagen, beweist
Andreas Giger
Ach,
mein verflixtes Philosophengehirn! Statt brav verflossene und künftige
Marketing-Trends zu sortieren und sie danach zu werten, was für
die Praxis in der Schweiz Relevanz hat - wie vom Chefredaktor gewünscht
- kreist es unablässig um diesen Begriff der Praxisrelevanz.
Was könnte das im Zusammenhang mit Marketing-Trends bedeuten?
Nun,
die Erwartungshaltung ist mir natürlich klar. Wer kochen muss,
braucht handfeste Rezepte, und keine abgehobenen Ideen, die zwar in
der Theorie gut klingen, sich aber in der Praxis nicht nachkochen
lassen, und schon gar keine philosophischen Betrachtungen über
Wesen und Sinn der Kochkunst. Also: Man nehme Trend X oder Y, reite
auf ihm oder hänge sich an ihn wie folgt - und schon werden einem
satte Zuwachsraten serviert. So hätte man es gerne.
Geht
aber nicht. Sorry. Sonst wüsste ich es. Ich habe mich lange genug
mit Trends beschäftigt, schon zu Zeiten, als das noch kein Modetrend
war, und dabei sind mir etwelche Illusionen verflogen.
Woraus
Sie jetzt nicht den Schluss ziehen sollten, es lohne sich nicht, sich
mit Trends zu beschäftigen. Es ist nur so, dass Sie sich einen
Haufen überflüssiger Action ersparen können, und dafür
die Chance bekommen, da hinzugucken, wo es sich wirklich lohnt, wenn
Sie für einen Moment zurücktreten und sich aus dieser Distanz
heraus ein paar Gedanken über Wesen und Sinn von Trends machen.
Sie werden dabei die alte Weisheit bestätigt finden, dass ein
bisschen Theorie manchmal am meisten Praxisrelevanz bringt.
Was ein
Trend ist, sagt uns das gute alte Wörterbuch: "Grundrichtung
einer statistisch erfassten Entwicklung". Das klingt tröstlich.
Entwicklungen, also dynamische Verþnderungsprozesse, erleben wir zunächst
ja meist als chaotisch, also ungeordnet, und da bringt das Erkennen
einer Entwicklungsrichtung Ordnung in die Sache, indem wir ein sinnvolles
"Fliessmuster" entdecken, an dem wir unser zukunftsgerichtetes
Handeln ausrichten können.
Trends
dienen also grundsþtzlich der Orientierung im chaotischen Wandel,
und das ist gut so. Allerdings nur, wenn wir ein realistisches und
differenziertes Bild davon haben, was auf dem Trendmarkt so alles
angeboten wird. Nur dann entgehen wir der Falle, unsere Zeit und Aufmerksamkeit
(und unser Geld) in die falschen Angebote zu investieren.
Am einen Pol des Angebotsspektrums
finden wir die bunt schillernde Welt der Modetrends. Trendfarben in
der Kleidermode. Angesagte Trendlokale. Kurzlebige Trendsportarten.
In dieser Welt lassen sich, Beispiele gibt es genug, massive kurzfristige
Gewinne machen. Wer eine Nase für Modetrends hat, oder gar die
Power, selber Trends zu setzen, kann erfolgreich auf einer Trendwelle
surfen. Und sie absahnen.
Umgekehrt
sind auch die Absturzrisiken hoch. Wehe dem, der sich an einen solchen
Modetrend anhängen will, er kommt immer zu spät. Dafür
ist diese Welt zu kurzlebig, zu zappelig, zu chaotisch. Längst
sind die Zeiten vorbei, als ein Modetrend auch ein Modediktat war.
Den einen Trend gibt es längst nicht mehr,
zu jedem Modetrend gibt es einen Gegentrend, oder vielmehr eine Vielzahl
höchst unterschiedlicher und widersprüchlicher Trends.
Es versteht
sich von selbst, dass es in dieser Welt keine allgemein gültigen
Trendrezepte geben kann. Was manche nicht daran hindert, immer wieder
aufs Neue den einen ultimativen Trend zu verkünden. Und andere,
ihnen diesen abzukaufen. Und morgen gleich den nächsten...
Am anderen
Pol finden wir die Welt der Megatrends. Wo Modetrends die Schaumkronen
der Oberflächenwellen erfassen, geht es hier um die grossen und
mächtigen Tiefenströmungen. Sie sind langlebig und umfassend,
niemand kann sie aufhalten oder umlenken. Es gibt entsprechend nur
eine Handvoll solcher Megatrends. Globalisierung etwa. Oder Individualisierung.
Oder die älter werdende Gesellschaft.
Anders
als bei den Modetrends kann auch das beste Marketing an den Fakten
eines Megatrends nichts ändern - wohl aber an deren Interpretation.
Die älter werdende Gesellschaft etwa birgt ja nicht nur jene
Risiken, die sich im schrecklichen Unwort "Überalterung"
bündeln. Sie öffnet vielmehr mit ihrer Perspektive einer
wesentlich längeren Zeit der Reifung auch Chancen, die wir erst
ahnen, persönliche ebenso wie gesellschaftliche - und wirtschaftliche.
Um solche
Chancen zu erkennen, müssen wir allerdings sorgfältig hinschauen,
worum es bei den Megatrends geht. Individualisierung etwa bedeutet
keineswegs Zersplitterung und Vereinzelung. Vielmehr geht es bei der
in Europa vorherrschenden Spielart des "Soft-Individualismus"
um ein neues Gleichgewicht zwischen ich und wir, in dem ebenfalls
viele Potenziale, auch ökonomische, stecken.
Wo in
diesem Spannungsfeld liegen nun die sogenannten Marketing-Trends?
Ich fürchte, weitaus näher beim Pol der Modetrends als bei
jenem der Megatrends. Ich habe dafür eine Kronzeugin. In ihrem
zusammen mit ihrem Mann geschriebenen und schon 2002 erschienenen
Buch "The Support Economy", das den bezeichnenden Untertitel
"Why Corporations Are FAILING INDIVIDUALS and the NEXT EPISODE
of CAPITALISM" trägt, schildert Shoshana Zuboff die Marketing-Trends
der letzten Jahrzehnte, ob "One-to-One-Marketing" oder "Customer
Relations Management" als eine einzige Abfolge von intellektuellen
Modeströmungen ohne jeden Tiefgang.
Mehr
noch. Die meisten Unternehmen, und deren Marketing eingeschlossen,
hätten noch nicht realisiert, dass unsere Marktwirtschaft mitten
in einem fundamentalen Wandel stecke. Sie hingen einem Bild aus dem
letzten Jahrhundert an, in dem im Zentrum das Unternehmen schwebt,
der Sonne gleich, um die in näherem Abstand Planeten wie die
Aktionäre, die Mitarbeiter oder die Lieferanten kreisen.
Und die
Kunden? Die gleichen fernen Planeten, die weit draussen kreisen, unbekannt
und eigentlich eher lästig, weil potenziell immer die reibungslosen
Ablþufe der Maschinerie von Produktion und Vertrieb störend.
Dieses Bild, so Zuboff, sei so tief in den traditionellen Unternehmen
verankert, dass sie es wohl nie mehr los würden.
Dabei
seien die Kunden - nicht als anonyme Angehörige einer Zielgruppe,
sondern als Individuen - gerade dabei, das zu werden, was sie allem
Marketing-Geraune zum Trotz nie waren: Könige. Und Königinnen
natürlich. Brutaler gesagt: Die Macht auf den Märkten wandert
im 21. Jahrhundert endgültig hin zu den individuellen Kunden.
Marketing-Erfolge werden definitiv dadurch erzielt, dass man die wahren
Erwartungen individueller Persönlichkeiten erfüllt - und
noch ein bisschen mehr.
Wenn
es also einen Megatrend im Marketing dieses Jahrhunderts gibt, dann
ist es dieser. Und wenn es eine Instanz gibt, welche diese Einsicht
dem Gesamtunternehmen vermitteln kann, um damit Frau Zuboffs düstere
Prognosen, wonach Unternehmen nicht so grundsätzlich lernfähig
seien, Lügen strafen zu können, dann ist es das Marketing.
So leid
es mir tut: Das wird nicht ohne einen grundlegenden Kulturwandel im
Marketing selbst gehen. Es gilt, Abschied zu nehmen von lieb gewordenen
Denkmustern wie etwa dem kriegerischen: "Märkte erobern.
Zielgruppen penetrieren."
Oder
dem technokratischen: Customer Relationship Management. Ich bitte Sie. Als ob man
eine Beziehung, zumal eine nachhaltige, managen könnte. Solange das Marketing
nicht wirklich realisiert, dass man eine Beziehung nur pflegen
kann, und zwar auf gleicher
Augenhöhe, merken
die Kundin und der Kunde die Absicht (überreden statt überzeugen)
und die Haltung (von oben herab), und sind verstimmt.
Das ist
durchaus wörtlich zu nehmen. Der grösste Lebensqualitäts-Killer
beim Konsum ist für die Bewusstseins-Elite des Marktes: Fehlender
Respekt. Wenn nur das Portemonnaie zählt und nicht der Kunde
mit seinen Werten. Wenn er als Persönlichkeit nicht ernst genommen
wird.
Auf diesem
Feld werden die wahren, weil nachhaltigen Marketingerfolge der Zukunft
geerntet werden, und nicht auf der Wiese der ebenso bunten wie rasch
verblühten Modetrends.
Ein Marketing,
das sich weder als Verkaufs-Armee noch als Verkaufs-Maschine versteht,
sondern als Schnittstelle zwischen Anbieter und Markt, als Vermittler,
der Wünsche und Möglichkeiten beider Seiten zusammen bringt,
wird leicht erkennen, dass es auf Kundenseite mehr und mehr einen
dominanten Leitwert geben wird: Lebensqualität. Und es wird einsehen,
dass das nicht irgendein zu vernachlässigender weicher Faktor
ist, sondern knallharte Realität.
Denn
von den Werten der Kunden, also von dem, was ihnen etwas wert ist,
hängt es mehr und mehr ab, wofür sie bereit sind, Geld auszugeben.
Die Wertschöpfung der Zukunft erfolgt durch die Werte der Kunden.
Und wenn Lebensqualitþt zum zentralen Leitwert wird, entscheidet sich
der Erfolg des Marketings danach, ob ein Kaufakt dem Lebensqualitäts-Konto
des Kunden belastet oder gutgeschrieben wird.
Was Lebensqualität
konkret in einem bestimmten Markt für die Kunden bedeutet, lässt
sich nur bedingt aus allgemeinen Trendstudien erfahren. Aber man kann
die Kunden auch ganz einfach danach fragen. Wenn man sie nicht als
Datenmelkkühe behandelt, sondern als echte Partner respektiert,
werden sie bereitwillig Auskunft geben.
Der empfehlenswerteste
Marketing-Trend ist es demnach, nicht jeder Trend-Sau nachzujagen,
die gerade durchs Dorf getrieben wird, sondern sich gelegentlich Raum,
Zeit und Musse zu gönnen, um vertieft über das eigene Tun
nach- und vorzudenken. Also, ab mit Ihnen auf einen trendigen Winterspaziergang!