DIE BEWUSSTSEINS-ELITE

 

Beachten Sie auch:

Lebensgestaltung: Kunst oder Handwerk? So schützen Sie sich vor übertriebenen Erwartungen an sich selbst.

Aktuell - Hier finden Sie die aktuellsten Beiträge auf einen Blick

Kompakt-Impulse - Fundstücke zu den Themen dieser Homepage

Übersicht - über alle zugänglichen Impulse


 

 

 

Zufriedenheit: das unterschätzte Mauerblümchen

Ich mag Mauerblümchen. Das können Sie zunächst ganz wörtlich nehmen. Ich liebe die kleinen Blumen, die unscheinbar und fast verborgen blühen und deshalb dem Betrachter eine eigene Anstrengung abverlangen, wenn dieser ihre Schönheit wahrnehmen will.

Dabei habe ich gar nichts gegen die strahlende Schönheit üppig blühender Blumenpracht einzuwenden, die einem direkt ins Auge springt. In meinem Begriff von Schönheit hat beides Platz, und ich möchte weder die eine noch die andere ihrer Ausprägungsformen missen.

Im Zweifelsfalle jedoch schlägt mein Herz für die Kleinen. Und mein Kopf liefert dazu ein kühles Kalkül, indem er an die Bilanz des zweiten Blickes erinnert: Bei der strahlenden Schönheit ist, wenn die erste Blendung erst mal vorbei ist, die Wahrscheinlichkeit groß, dass doch irgendeine dunkle Stelle oder ein Makel sichtbar wird. Der zweite Blick bringt also vermutlich eine Enttäuschung.

Selbst wenn sich die strahlende Schönheit tatsächlich als perfekt erweisen würde, änderte das nichts an dieser Enttäuschung, denn dadurch würde sie kalt und steril und leblos wirken, weil Lebendiges nie perfekt ist.

Genau umgekehrt verhält es sich beim zweiten Blick auf ein Mauerblümchen. Hier ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir dabei verborgene Reize und Schönheiten entdecken. Unsere ursprünglichen Erwartungen werden dabei übertroffen. Schlimmstenfalls entdecken wir nichts. Dann entspricht die Realität unserer ersten Erwartung und liegt nicht darunter wie bei der strahlenden Schönheit.

Somit fällt der Bilanzvergleich des zweiten Blickes eindeutig zugunsten des Mauerblümchens aus. Das ist kein Einwand gegen die Faszination des ersten Blickes, wohl aber ein Plädoyer für mehr bewusste Aufmerksamkeit für die Mauerblümchen. Schließlich beschert uns das Leben wesentlich mehr zweite und dritte Blicke als erste.

Ein Mauerblümchen-Dasein fristet noch die Zufriedenheit. Sie steht ganz im Schatten ihres großen Geschwisters, des Glücks. Diesem gilt unser ganzes Streben und Wünschen. Wir wünschen uns bei allen möglichen Gelegenheiten gegenseitig Glück, und die Verfassung der USA gesteht ihren Bürgern ausdrücklich das Recht auf Streben nach Glück zu.

Der König von Bhutan vertritt die Überzeugung, das "Bruttoglücksprodukt" sei für seine Untertanen wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt. Und eine wachsende "Glücksforschung" versucht, wissenschaftlich abgesichert herauszufinden, wie man glücklich wird. Ihre Erkenntnisse bilden zusammen mit jenen von anderen selbsternannten Glücksexperten die Basis für ein florierendes Angebot an Büchern und Kursen zum Glücklichwerden. Die Jagd nach dem Glück wird zum Geschäftsmodell.

Nun ist Jagdfieber allerdings ein schlechter Ratgeber. Klüger ist es, sich zu fragen, ehe zur Jagd geblasen wird, ob die potenzielle Beute eigentlich ein realistisches Ziel sei. Und, falls ja, auch ein lohnendes.

Zum Glück sind wir im Falle des Glücks zur Beantwortung dieser Fragen nicht allein auf die aktuellen Glücksratgeber abgewiesen. Das Streben nach Glück scheint so sehr in der menschlichen Natur angelegt zu sein, dass sich die besten Dichter und Denker früh dazu herausgefordert sahen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Ihr Urteil ist insgesamt, verzeihen Sie die klare Sprache, vernichtend. Glück ist weder ein realistisches noch ein erstrebenswertes Ziel. Wobei dies Denker, genau so übrigens wie Sie und ich, sehr wohl zu differenzieren wissen: Glück existiert — in kostbaren Momenten. Auslöser für solche Momente des Glücks kann alles Mögliche sein. Gemeinsam ist ihnen allen, dass es sich dabei um ein Geschenk handelt, von wem auch immer, aber auf keinen Fall zu planen oder zu kontrollieren. Dass es zu einem geglückten Leben gehört, solche geschenkten Glücksmomente dankbar anzunehmen und sich an ihnen gebührend zu erfreuen, versteht sich von selbst.

Das Unglück entsteht erst, wenn wir diese Momente unbedingt in Richtung Unendlichkeit verlängern wollen: ... denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. Da hatte der alte Schnauzbart Nietzsche schon Recht. Es gibt diese Stimme in uns — und es gibt auch jene andere, die genau weiß, dass permanentes Glück für menschliche Geschöpfe nicht vorgesehen ist und damit ein völlig unrealistisches Ziel darstellt.

Und selbst wenn das Glück in Form der Glücksgöttin reiche Spende über einigen wenigen "Glücklichen" ausschüttet, ist das alles andere als eine Glücksgarantie: Lottogewinner sind zwar einige Wochen lang glücklicher als vorher, doch das pendelt sich sehr rasch wieder auf den alten Zustand ein, trotz der Millionen.

Was also machen wir mit unserem Streben nach Glück, das uns ja auch Schwung verleiht? Gibt es ein realistischeres und lohnenderes Ziel, das wir — mit demselben Schwung — stattdessen anpeilen könnten?

Ja. Zufriedenheit. Ich weiß, dieses Mauerblümchen hat einen schlechten Ruf, gilt als spießig, unattraktiv, grau, langweilig, bestenfalls für alte und längst resignierte Menschen geeignet. In diesem Büchlein möchte ich Sie zum zweiten Blick auf dieses Mauerblümchen einladen.

Ein paar Zückerchen vorweg: Erstens ist Zufriedenheit als Dauerzustand wesentlich realistischer als permanentes Glück. Zweitens schafft im Gegensatz zum hektischen Streben nach Glück die bewusste Achtsamkeit für Zufriedenheit einen Zustand von Seelenruhe und Seelenfrieden, was ungemein wohltuend sein kann, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

Und drittens liegt Zufriedenheit viel stärker in unserer eigenen Hand als Glück. Es ist wie beim Mauerblümchen: Indem wir wenig erwarteten, werden wir von der Realität nicht enttäuscht, sondern im Gegenteil beglückt, und das macht uns zufrieden. Wir können also unsere Zufriedenheit mit der Realität, die wir nicht beeinflussen können, verbessern, wenn wir unsere Erwartungen, die wir sehr wohl beeinflussen können, reduzieren.

Natürlich kann man auch das übertreiben, dann werden wir übertrieben bescheiden. (Siehe dazu Jenseits von Kundenzufriedenheit) Doch mit dem richtigen Maß angewandt, funktioniert der Trick. Es gibt Spielräume, innerhalb derer wir unsere Zufriedenheit frei beeinflussen können. Das ist für Lebensgestalterinnen und Lebensgestalter eine gute Nachricht. Und ein ebenso guter Grund dafür, sich als Element bewusster LebensKunst näher auf das unterschätzte Mauerblümchen namens Zufriedenheit einzulassen.

Ach übrigens, bevor ich es vergesse: Eigentlich ist Zufriedenheit gar kein Mauerblümchen mehr, jedenfalls nicht bei der Bewusstseins-Elite, zu der Sie als LeserIn dieses Bändchens zweifellos gehören. In meiner dort erhobenen "Hitparade der heißen Werte" ist Zufriedenheit innerhalb der letzten rund zwei Jahre von Platz fünfzehn auf Platz vier empor geschossen. Eine bemerkenswerte Karriere vom Mauerblümchen zum heißen Wert — fürwahr.


Dieser Text ist das erste Kapitel aus dem ittlerweile fertig geschriebenen Bändchen Zufriedenheit aus der Reihe LebensKunst kompakt. Text und Bild Andreas Giger.