Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen |
Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität |
2. Notwendig: Respekt vor dem Gegner
Zu dieser respektvollen Haltung gehört zunächst eine präzise Benennung des Gegners. Abgelöst werden soll nämlich nicht generell der Leit-Wert Materialismus, sondern dessen Steigerungsform übertriebener Materialismus, denn wer jegliche Form von materialistischer Orientierung der Menschen bekämpfen wollte, würde sich damit nur lächerlich machen. Oder gleich verhungern oder erfrieren. Wir Menschen sind nun mal nicht ausschließlich feinstoffliche Wesen, sondern unsere ganze Existenz ist auf einer materiellen Grundlage aufgebaut. Sich um diese materiellen Grundlagen wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu kümmern, ist somit eine unabdingbare Überlebensstrategie. Dass wir dabei so erfolgreich waren, hat die Gattung Mensch zum dominierenden Lebewesen auf unserem Planeten gemacht. Und wo wir schon dabei waren, die materiellen Grundlagen unseres Lebens zu sichern, haben wir den Schwung genutzt, um nicht nur das nackte Überleben zu sichern, sondern gleich auch so angenehme Dinge wie eine bessere Gesundheit oder ein bequemeres Leben zu gewinnen. Man braucht nur einmal hundert oder zweihundert Jahre zurückzudenken, um festzustellen, dass die westliche Zivilisation auch bei diesem Projekt sehr erfolgreich war. Das materielle Streben unserer Vorfahren hat uns einen Lebensstandard beschert, von dem frühere Generationen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Und den wir, wenn wir ehrlich sind, auch nicht mehr wirklich missen wollten. Das Ziel, den eigenen Lebensstandard zu erhöhen oder doch wenigstens beizubehalten, ist somit legitim, was noch verstärkt gilt, wenn wir dabei auch an Menschen denken, die in weniger privilegierten Situationen leben, sei es bei uns oder weit weg. Entsprechend unangebracht sind deshalb moralische Verurteilungen dieser angeblich egoistischen materiellen Werthaltung. Ohne eine Portion Egoismus, der auch die engere Sippe mit einschließen kann, gibt es kein Überleben, und zu überleben ist nun mal der biologische Auftrag, den uns die Evolution mitgegeben hat. Ganz ohne Orientierung an materiellen Werten geht die Chose also nicht. So weit, so gut – und banal. Doch die Faszination der materiellen Werteorientierung, die Dominanz des Strebens nach einem immer höheren Lebensstandard, erklärt sich eben nicht allein aus dieser biologischen Notwendigkeit heraus. Das wird schon daraus ersichtlich, dass es den Absahnern aus den Chefetagen längst nicht mehr um eine Erhöhung des Lebensstandards ging. Ab einer gewissen Einkommenshöhe ist das kaum noch möglich, und zudem fehlt dieser Kaste ohnehin die Zeit, um ihren Reichtum zu genießen. Und trotzdem haben sie alles getan, um noch an ein paar Millionen mehr heranzukommen. Das lässt sich nur dadurch erklären, dass Geld selbst und dessen unaufhörliche Vermehrung zum Selbstzweck geworden ist. Geld dient in dieser Perspektive nicht mehr als Mittel zur Erhöhung des Lebensstandards, wozu es eigentlich mal gedacht war, sondern es findet seinen Sinn und seinen Zweck in sich selbst. Das wiederum führt dazu, dass nicht mehr zählt, wofür man Geld ausgibt, sondern nur noch, wie viel man davon einnimmt und besitzt. Wunderschön vertritt diese Haltung Dagobert Duck, der bekanntlich einen eher bescheidenen Lebensstil pflegt und seinen Lustgewinn ganz aus dem Bad in den Talern seines Geldspeichers bezieht. Dass Dagobert Duck keine neue Comic-Figur ist, zeigt, dass der Wert Geld als Selbstzweck schon länger existiert. Neu waren im letzten Jahrzehnt nur die Dimensionen, zu denen diese Wertorientierung geführt hat: Der Wert der Finanzanlagen übersteigt den Wert aller weltweit verkauften Waren und Dienstleistungen inzwischen um das Dreifache. Das heißt, es ist wesentlich wichtiger geworden, Geld aus Geld zu machen, als mit Geld etwas Vernünftiges anzustellen. Wenn das keine Verselbständigung des Wertes Geld ist... Diese Tendenz beschränkt sich natürlich nicht nur auf das Finanzsystem und auf einige böse Bankenmanager. Wer etwas anzulegen hat, setzt gerne auf höhere Renditen, und wenn jetzt viele herbe Verluste einfahren, liegt dies nicht nur an schlechter Beratung, sondern auch an einer weit verbreiteten Neigung, die wir, wenn wir Klartext reden, ruhig als Gier bezeichnen können, wenngleich es hübscher klingt, dass wir alle dazu neigen, immer noch etwas mehr zu wollen. Doch das allein reicht immer noch nicht, um die Faszination des Geldes zu erklären, eine Faszination, die so weit geht, dass es unbesehen geglaubt wird, wenn die Verfechter materialistischer Werte behaupten, Geld sei the real thing, also das einzig wirkliche, das, worum es ginge. Was, mit Verlaub, ziemlicher Blödsinn ist. Geld ist nämlich keineswegs real oder wirklich. Das allermeiste Geld, das im Umlauf ist, hat sich längst zu abstrakten Datensätzen in irgendwelchen Computern verflüchtigt, und selbst die paar Scheine und Münzen, die wir noch in unserem Geldbeutel rum tragen, haben kaum einen eigenen materiellen Wert, sind vielmehr nur Symbole dafür, dass wir uns dafür etwas kaufen können. So gesehen macht Geld tatsächlich nicht satt. Genau darin liegt natürlich die Genialität des Geldes. Vor dessen Erfindung gab es nur den Tauschhandel, und der ist ziemlich unpraktisch, weil man meist nur über etliche Ecken herum zu dem kommt, was man will, und deshalb davor auf einige an sich völlig überflüssige Tauschgeschäfte angewiesen ist. Diese Umwege entfallen, wenn man für den Wert konkreter Güter und Dienstleistungen eine symbolische Währung, eben das Geld, einführt. Jetzt muss ich nicht mehr meinen Schinken zuerst gegen ein Fell eintauschen, dieses gegen eine Schüssel, diese wiederum gegen einen Hut, und erst jetzt den Hut gegen den eigentlich gewollten Hammer, sondern jetzt kann ich meinen Schinken gegen Geld verkaufen und mit diesem Geld dann direkt zum Hammerproduzenten gehen. Das funktioniert natürlich nur, wenn der Hammermacher darauf vertrauen kann, mit dem Geld, das er von mir erhalten hat, wiederum das kaufen zu können, was er will. Die Basis der Geldwirtschaft war nie der Metallwert der Münzen (lange Zeit waren, global gesehen, als Zahlungsmittel nicht etwa Münzen am gebräuchlichsten, sondern Muscheln), sondern ein völlig immaterieller Wert namens Vertrauen. Dass die Finanzkrise im Wesentlichen eine Vertrauenskrise war, bestätigt diesen Sachverhalt. So viel zur Frage, was das wirkliche Ding sei... Es sei denn, wir würden als wirklich nicht so sehr das bezeichnen, was wir in die Hand nehmen und anfassen können, sondern das, was wir messen können. Und tatsächlich ist diese Auffassung zu einem wesentlichen Element unserer durch und durch materialistischen und rationalen Kultur geworden: Real ist, was man messen kann. Auch die Tätigkeit des Messens ist natürlich eine geniale Erfindung: Indem man einen einheitlichen Maßstab an die Dinge anlegt, macht man diese vergleichbar. Und Dinge vergleichen zu wollen, scheint ein elementarer Drang unserer Gehirntätigkeit zu sein, helfen doch Vergleiche, eine zunächst chaotisch erscheinende Welt zu ordnen und damit überschaubarer zu machen. Nun gibt es tatsächlich keinen universaleren Vergleichsmaßstab als Geld. Nicht nur alles und jedes, sondern auch alle und jede lassen sich in Geldwert ausdrücken. Und es ist jedermann leicht einsichtig, dass tausend Euro zehn mal wert sind als hundert. Und weil das alles so einfach erscheint, zweifeln wir nicht mehr daran, dass mehr immer besser ist, weil wertvoller. Wer aber möchte nicht nach dem Besseren und Wertvolleren streben – also sein ganzes Trachten auf mehr Geld zu richten. Erschwerend hinzu kommt, dass die Menge an Geld, über die wir verfügen können, für uns nicht nur eine absolute Größe ist, sondern auch eine relative. Das heißt, wir vergleichen uns ständig mit unseren Mitmenschen, und fällt dieser Vergleich zu unseren Ungunsten aus, versuchen wir das zu korrigieren, was sogar wichtiger ist als unser absoluter Lebensstandard: In einer Umfrage wollte die Mehrheit lieber einen kleinen Einkommenszuwachs, wenn die Nachbarn gar nichts bekämen, als einen großen, bei dem die Nachbarn aber noch mehr erhielten... Unsere kulturelle Fixierung auf Geld liegt also zu einem wesentlichen Teil daran, dass Geld ein standardisierter und universal gültiger Maßstab ist, mit dessen Hilfe wir unseren eigenen Lebensstandard ständig vergleichen können: mit der Vergangenheit und der erhofften Zukunft, aber auch mit unseren Mitmenschen. Das macht die Orientierung am Wert Lebensstandard so faszinierend einfach. Und das (vermeintlich) Einfache hat natürlich immer die besseren Chancen, zum Leit-Wert zu werden... |
Lebensqualitäts-Konto
Die Moral von der Geschicht’: Geld an sich ist wertfrei – es kommt darauf an, wozu wir es nutzen. Meines brauche ich zum Bezahlen meiner Rechnungen, und für einige Dinge, die das Leben angenehmer machen. Was darüber hinausgeht, interessiert mich nicht wirklich, und das bedeutet, dass ich dafür keine Ressourcen aufbringen will, und vermutlich nicht mal kann. Das hatte zur Konsequenz, dass ich den Seinszustand des Prekariats am eigenen Leib, oder besser Bankkonto, kennen gelernt habe, lange bevor es das Wort überhaupt gab. Dieser Tanz am Abgrund und ohne sicherndes Auffangnetz war natürlich nicht immer einfach, und es gab die eine oder andere Gelegenheit, in der ich mich nach der Sicherheit einer ordentlich bezahlten festen Stelle gesehnt habe. Zum Glück hat der Kosmos nicht gewollt, dass einer dieser Fluchtversuche aus meiner freiberuflichen Existenz als intellektueller Allzweck-Tagelöhner gelang, denn es hätte mich zu viel von dem gekostet, was mir wirklich wichtig und wertvoll ist. Geistige Unabhängigkeit zum Beispiel. Oder Zeit-Autonomie. Oder die Möglichkeit, meine Gedanken beim Gehen zu verfassen. Ohne, dass es mir immer bewusst war, habe ich so ständig eine Güterabwägung vorgenommen, eine Bewertung verschiedener Alternativen davon, wie ich mein Leben gestalten wollte, und was mir dabei wichtiger war: Lebensstandard oder Lebensqualität. Mittlerweile formuliere ich es noch etwas präziser: Was ist mir wichtiger, ein Zuwachs auf meinem Bankkonto, oder ein Plus bei meinem Lebensqualitäts-Konto? Zunächst ging es mir dabei wie vermutlich Ihnen: Hä? Ein Konto braucht doch eine messbare Größe, und Qualität kann man nicht messen, schon gar nicht Lebensqualität. Lebensqualitäts-Konto ist somit ein Widerspruch in sich. Dann habe ich festgestellt, dass es zum Beispiel in der Paartherapie den Begriff des Beziehungs-Kontos gibt. Auch dieses Bild entspricht natürlich nicht eins zu eins dem Vergleichsobjekt Bankkonto, und doch macht die Analogie Sinn. Weshalb ich je länger je mehr das Lebensqualitäts-Konto für einen viel versprechenden Ansatz halte. Und zwar, weil er mich bei jeder konkreten Lebens-Entscheidung zur Frage zwingt, ob die gewählte Alternative mein Lebensqualitäts-Konto eher ins Plus oder ins Minus bringt. Natürlich kann man Lebensqualität nicht wirklich messen, das heißt quantifizieren. Aber es gibt eine Form der Annäherung, nämlich diese Frage: „ Wenn Sie einmal die höchste Lebensqualität, die Sie für sich denken können, mit dem Wert 100 beziffern: Wie hoch ist dann Ihre derzeitige allgemeine Lebensqualität, ausgedrückt in einer Zahl zwischen 1 und 100?“ Ich stelle diese Frage immer wieder in meinen Umfragen und bei meinen Vorträgen, und fast alle können sie immer problemlos beantworten. Der Durchschnittswert der Antworten liegt übrigens ziemlich konstant bei etwa 75. Mein gegenwärtiger Wert liegt so bei 90. Und Ihrer?
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