Nicht
nur biblische Mythen wie jener vom Tanz um das goldene Kalb, oder literarische
Figuren wie Goethes Zauberlehrling, können ein sehr erhellendes Licht auf die
Hintergründe der Finanzkrise werfen, sondern auch Volksmärchen wie jenes vom
Hans im Glück. In der Fassung der Gebrüder Grimm liest sich das in der
Kurzzusammenfassung von Wikipedia so:
Hans
tauschte den Lohn für sieben Jahre Arbeit, einen kopfgroßen Klumpen Gold, gegen
ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein
gegen eine Gans, die Gans gegen einen Schleifstein mitsamt einem einfachen
Feldstein - und glaubte jedes Mal, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, weil
das neue Gut ihm weniger Schwierigkeiten zu machen scheint als das weggegebene.
Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in
einen Brunnen. »So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen
unter der Sonne«. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort,
bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war. Er war glücklich, die Steine losgeworden zu sein.
Hier
finden wir das Gegenstück zum raffgierigen Investmentbanker oder Anleger.
Während der Gierige von einer positiven Korrelation zwischen Geld und Glück
ausgeht (je mehr vom einen, desto mehr vom anderen), ist für Hans im Glück eine
negative Korrelation gegeben: Je weniger Geld, desto mehr Glück. Vor allem das
Glück, frei von überflüssigem Ballast zu sein.
Nur:
Ganz frei von materiellen Bedürfnissen ist auch unser besitzloser Hans im Glück
nicht. Auf der Heimreise von seinem Arbeitgeber zu seiner Mutter leidet er
mehrfach unter Hunger und Durst. Ein „material girl“, wie es von Madonna einst
besungen wurde, bleibt eben ein materielles Wesen mit materiellen Bedürfnissen,
selbst wenn es jedem Besitzstreben abschwört. Ganz ohne Kohle geht die Chose
auch für die glühendsten Anhänger immaterieller und größten Verächter
materieller Werte nun mal nicht.
Das
Märchen erinnert uns daran, dass weniger tatsächlich manchmal mehr sein kann,
würde jedoch überstrapaziert, wenn man daraus folgerte, weniger müsse immer
mehr sein. Zwischen maßloser Überbetonung der materiellen Sphäre wie beim Tanz
um das goldene Kalb, und völliger Verleugnung des Werts materieller Werte wie
bei Hans im Glück muss es einen goldenen Mittelweg geben.
Der
würde dann ungefähr besagen, dass ein gewisses Mindestmaß an Geld und damit an
Verfügbarkeit von Produkten und Dienstleistungen sowie an Zugang zur Welt für
die Lebensqualität von fast allen Menschen unabdingbar ist. Und er würde
beinhalten, dass ab diesem Mindestmaß eine Zunahme an verfügbarem Geld
keineswegs automatisch einen nachhaltigen Zuwachs an Lebensqualität bedeutet.
Lottogewinner verjubeln ihren Gewinn oft sehr schnell, und wenn nicht, so sind
sie spätestens nach zwei Jahren auch nicht glücklicher oder zufriedener als vor
dem großen Ereignis.
Die
große Preisfrage (im Wortsinne) ist natürlich, wo die Grenze liegt, bis zu der
es sich lohnt, in die Lebensqualitäts-Sphäre der materiellen Werte zu
investieren. Um ein Investment handelt es sich dabei zweifellos, denn um an
materielle Werte zu kommen, müssen wir Zeit und Energie investieren. Und
meistens auch ein Stück unserer Freiheit verkaufen. Hans im Glück verzichtet am
Schluss des Märchens auf dieses Investment und hüpft leichten Herzens und frei
von aller Last davon.
Er
folgt dabei einem klaren Werte-System: Freiheit ist wertvoller als Geld und
Gut! Das mag ihn ehren, taugt aber in seiner Radikalität wohl kaum zum Vorbild
für uns Realgeschöpfe. Zum Glück stehen wir aber auch nicht vor der radikalen
Entscheidungsalternative Freiheit oder Geld. Wir haben es nur mit der
allerdings kaum weniger anspruchsvollen Herausforderung zu tun, materielle und
immaterielle Werte einigermaßen ins Gleichgewicht zu bringen.
Wo
der Punkt dieser Balance liegt, hängt einerseits von Ökonomie und Kultur der
Gesellschaft ab, in der wir leben, andererseits aber auch von unseren höchst
persönlichen Vorlieben und Überzeugungen. Bis zu welchem Punkt es sich lohnt,
in einen vermehrten Geldzufluss zu investieren, kann also jede und jeder nur
für sich selbst beantworten.
Dabei
hilft wie so oft die Vorstellung vom Lebensqualitäts-Konto. Da wir ja mit
Phantasie begabte Wesen sind, können wir uns durchaus vorstellen, welcher
Zuwachs auf dem Lebensqualitäts-Konto durch einen Zuwachs auf dem Bankkonto
verursacht würde, wobei uns die Geschichte mit den Lotto-Gewinnern daran mahnt,
diese Frage unter einer nachhaltigen Perspektive zu betrachten und kurzfristige
Zuwächse auf dem Lebensqualitäts-Konto zu vernachlässigen.
Auf
der anderen Seite der Bilanz haben wir zu bedenken, was vermehrte Investitionen
in materielle Werte, etwa durch Mehrarbeit, in anderen Lebensqualitäts-Sphären
an Verlusten verursachen könnten. Zum Beispiel könnte unser Lebensqualitäts-Konto
sinken, weil wir dadurch an Freiheit verlieren. Oder soziale Kontakte
vernachlässigen müssen. Oder durch Stress krank werden. Und so könnte es denn
durchaus sein, dass wir bilanzieren müssen, mehr Investitionen in die
materielle Sphäre würden sich nicht lohnen, weil unter dem Strich bei unserer
generellen Lebensqualität rote Zahlen resultieren.
Sollten
Sie allerdings ein teures Hobby haben, das Sie richtig glücklich macht, könnte
diese Bilanz wieder anders aussehen. Weil nämlich Ihre Lebensqualität in den
Keller rutschen würde, wenn Sie auf die Ausübung dieses Hobbys verzichten
müssten, kann es unter dem Strich besser aussehen, wenn Sie zwar durch
Mehrarbeit in gewissen Teilaspekten an Lebensqualität verlieren. Doch damit Ihr
Hobby retten.
Wer
in unseren reichen Breitengraden jegliche Bedeutung von materiellen Werten
leugnet und deshalb als Asket im Wald lebt, macht sich unweigerlich zum
Außenseiter. Doch wie viel Wert Sie darauf legen, Einkommen und Besitz zu
sichern und zu vermehren, wie viel Sie also in die materielle
Lebensqualitäts-Sphäre investieren, hängt jenseits gewisser minimaler Standards
ganz allein von Ihnen ab. Ein gewisser Lebensstandard ist für alle Menschen ein
wichtiges Element von Lebensqualität. Wie zentral die materielle
Lebensqualitäts-Sphäre ist, und wie viel Platz sie für die anderen Sphären
übrig lässt, dürfen Sie entscheiden. Ganz allein. Oder zusammen mit Ihren
Liebsten...