Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

10. Die Sphäre der Gesundheit

Hauptsache gesund! Die Bedeutung dieser Volksweisheit lässt sich daran ermessen, wie oft wir unseren Mitmenschen Gesundheit wünschen, beim Zuprosten ebenso wie bei Neujahrswünschen. Und wir wünschen uns Gesundheit auch selbst. In allen einschlägigen Umfragen darüber, was wichtig sei im Leben, steht Gesundheit immer ganz zuoberst auf dem Treppchen. Was bedeutet, dass sich fast alle Menschen über den sehr hohen Stellenwert von Gesundheit einig sind.

Mit einer weiteren Volksweisheit könnten wir das Thema bereits abhaken: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Die Sphäre der Gesundheit ist damit nicht nur eine der zentralsten Lebensqualitäts-Sphären, sie bildet zusammen mit einem ausreichenden gesicherten Einkommen vielmehr die Basis jeder Lebensqualität. Woran offenbar kaum jemand zweifelt.

Nichtsdestotrotz bleiben mindestens zwei Fragen: Gibt es ohne Gesundheit tatsächlich keine Lebensqualität? Und von welcher Gesundheit sprechen wir eigentlich?

Die erste Frage wird von unzähligen Menschen beantwortet, die krank oder behindert sind und dennoch eine hohe Lebensqualität empfinden. Von außen gesehen mag ihre Lebensqualität eingeschränkt erscheinen, doch die allein entscheidende Perspektive in Sachen Lebensqualität ist jene von innen, also die subjektive. Und die kann tatsächlich anders aussehen. Studien haben gezeigt, dass Menschen, die durch einen Unfall eine Behinderung erlitten, ihre Lebensqualität in der ersten Zeit, wie zu erwarten, tiefer einstufen. Doch nach einiger Zeit haben sie sich oft mit der neuen Situation arrangiert und empfinden eine ähnlich hohe Lebensqualität wie vor dem Unfall. Es gibt also offenkundig keinen allgemein verbindlichen direkten Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebensqualität.

Was nicht heißt, Gesundheit sei für Lebensqualität unwichtig. Bloß, welche Gesundheit? Früher war es einfacher: Gesundheit gleich Abwesenheit von Krankheit. Wer nicht offenkundig krank war, galt als gesund. Kleinere Befindlichkeitsstörungen oder Verletzungen wurden als normal betrachtet. Arztbesuche waren den schwereren Fällen vorbehalten.

Dieses Bild von Gesundheit hat sich gewandelt. Seit geraumer Zeit wird Gesundheit von der einschlägigen UNO-Organisation als Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und seelischen Wohlbefindens definiert. Und diese Definition hat sich massiv in unseren Köpfen eingenistet. So sehr, dass manche Menschen Lebensqualität mit permanenter Wellness verwechseln.

Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: vollkommenes körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden. So was wie ein strahlend blauer und wolkenloser Himmel. Ein schönes Idealbild, fürwahr, aber eines mit Folgen. Denn kaum taucht an diesem Himmel eine Wolke auf, sehen wir bereits eine gesundheitliche Störung, und ist der Himmel gar bedeckt, empfinden wir das als Katastrophe – bevor ein einziger Tropfen Regen gefallen ist.

Doch so wenig ein permanenter wolkenloser Himmel in unseren Breitengraden eine realistische Option bildet, so wenig ist ein permanentes und umfassendes Wohlbefinden ein realistisches Ziel für uns Normalsterbliche. Gewiss, es mag ein paar von ihrem genetischen Erbe gesegnete menschliche Exemplare geben, die ohne Unterlass gut drauf sind und ständig vor Energie und Wohlbefinden sprühen, doch die meisten von uns haben gelegentlich ein Befinden, spüren ein Zipperlein, sind geistig nicht hellwach, sehen sich und die Welt grau verhangen. Und sind damit, streng genommen, nicht gesund.

Nur: Krank sind wie deswegen noch lange nicht. Ganz offensichtlich gibt es zwischen gesund und krank eine ziemlich breite Grauzone, was uns einmal mehr lehrt, dass wir es im realen Leben selten mit digitalen Phänomenen zu tun haben, die nur zwei Zustände kennen. Das Leben ist analog, das heißt, zwischen extrem gesund und extrem krank gibt es viele, viele Zwischenstufen. Angesichts dessen macht es wenig Sinn, nur den einen Extrempol als Gesundheit zu definieren und den ganzen Rest als Krankheit.

Sinnlos ist das deswegen, weil wir damit alle heillos überfordern, das Gesundheits-System ebenso wie uns selbst. Wenn wir für jedes Wehwehchen eine ganze Palette medizinischer Dienstleistungen in Anspruch nehmen, wird das System unbezahlbar, ganz abgesehen davon, dass aus dieser Mentalität folgerichtig der nächste Schritt entsteht, nämlich der Anspruch darauf, mit allen Mitteln noch gesünder als gesund gemacht zu werden.

Doch vor allem überfordern wir uns selbst. Wenn wir nämlich der Überzeugung anhängen, Lebensqualität gäbe es nur bei absolut verstandener Gesundheit, rennen wir einem illusionären Ziel nach. Idealziele, und um ein solches handelt es sich dabei, sind nicht dazu da, wörtlich genommen zu werden. Sie sollen vielmehr eine Richtung vorgeben, einen Ort im Zeitstrom, auf den wir uns zu bewegen, den wir aber kaum jemals ganz erreichen können.

So ist auch Gesundheit, verstanden als permanentes umfassendes Wohlbefinden, ein lohnendes Idealziel, dem näher zu kommen eine Menge Investitionen lohnt. Die Kernbotschaft des Gesundheits-Booms der letzten Jahre und Jahrzehnte ist richtig: Es lohnt sich, etwas für seine eigene Gesundheit zu tun. Die Frage ist nur, wie viel etwas ist. Macht es wirklich Sinn, dass wir alle zu Gesundheits-Aposteln werden, die kein anderes Thema mehr haben als ihre eigene Gesundheit?

Nein. Auch in der Lebensqualitäts-Sphäre Gesundheit gilt nämlich das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens: Je näher wir dem Idealziel Perfektion kommen, ob auf dem Feld Gesundheit oder anderswo, desto mehr Aufwand müssen wir für den nächsten Schritt treiben. Diese Kurve wächst exponentiell: Die allerersten Schritte sind kinderleicht, der letzte unendlich schwer. Absolute Gesundheit wäre also theoretisch möglich, doch um sie zu erreichen, müssten wir einen unendlichen Aufwand treiben.

Das wiederum lohnt sich auf keinen Fall, denn es würde ja bedeuten, dass wir alle anderen Lebensqualitäts-Sphären völlig vernachlässigen müssten. So wichtig Gesundheit für unsere Lebensqualität ist, so sehr müssen wir auch in dieser Sphäre mit der Gewissheit leben, dass unsere Ressourcen beschränkt sind. Mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Gesundheit erreichen, müsste also die Devise lauten. Doch wo dieser Punkt von Balance und richtigem Maß liegt, muss und kann auch wieder nur jede und jeder für sich selbst herausfinden.

Dabei empfiehlt sich übrigens eine weitere Differenzierung, jene zwischen körperlicher auf der einen und geistig-seelischer Gesundheit auf der anderen Seite. Dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Facetten von Gesundheit handelt, sehen wir an ihrer gegenläufigen Entwicklung im Verlauf der Lebenszeit: Unsere körperliche Gesundheit nimmt beim Altern ab, geistig-seelisch dagegen sind ältere Menschen gesünder als jüngere, wie Studien immer wieder zeigen.

Das ist gut zu wissen, denn entsprechend können wir unseren Erwartungshorizont der realistischen Gesundheits-Ziele einstellen. Was entscheidenden Einfluss auf unsere Lebensqualität haben kann, denn bekanntlich hängt die Zufriedenheit mit dieser davon ab, was wir erwarten. Erwarten wir also für unsere Gesundheit nicht zu viel. Aber auch nicht zu wenig...

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Fußweg

An der Wiege ward es mir nicht gesungen, dass ich mich seit vielen Jahren gelegentlich scherzhaft als „unheilbar gesund“ bezeichne, wenn nach meinem Gesundheitszustand gefragt wird, denn als Kind war ich eher kränklich. Und doch scheint es, als ob ich beim Griff in den Genpool Schwein gehabt hätte, denn Langlebigkeit bei ordentlicher Gesundheit ist in meiner Verwandtschaft alles andere als selten.

Das ist die eine Seite. Die andere ist das, was ich selber zu meiner Gesundheit beitrage. Zum Beispiel, in einer Gegend mit halbwegs guter Luft zu leben, und mit einem Klima, das mir entspricht. Oder darauf zu achten, was ich futtere. Bewusst unnötigen Stress zu vermeiden und mein inneres Gleichgewicht sowie mein äußeres Beziehungsnetz zu pflegen.

Und dann ist da natürlich die Sache mit der Bewegung. Mit Sport kann ich, ehrlich gesagt, wenig anfangen, außer in der Rolle des Zuschauers. Mit einer Ausnahme: Ich gehe ausgesprochen gerne zu Fuß. Auch so ein familiäres Erbstück. Mit dem ich mir heut zu Tage manchmal wie ein Fossil vorkomme. Aber wie ein gesundes Fossil.

Denn was schon meine Großmutter gerne mit dem Satz „Der kürzeste Weg zur Gesundheit ist der Fußweg“ ausdrückte, hat die medizinische Forschung längst und wiederholt bestätigt: Wenn man durch Bewegung etwas für seine Gesundheit tun will, bringt die tägliche halbe Stunde strammen Fußmarsches das beste Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Woran ich mich im Allgemeinen zu halten pflege.

Das war’s dann auch schon. Natürlich könnte ich noch mehr für meine Gesundheit tun oder dieser nicht eben förderliche Gewohnheiten lassen. Doch der Aufwand für einen geringen zusätzlichen Ertrag wäre unverhältnismäßig hoch, jedenfalls in meiner Optik. Und nur um die geht es in meinem Fall, so wie es um Ihre Optik in Ihrem Fall geht.

Ja, Gesundheit ist auch für mich wichtig, aber ich kann und will nicht jeden Aufwand treiben, um auch noch die letzten Wolken am blauen Himmel meines Wohlbefindens zu vertreiben, die da auch bei mir gelegentlich in Form von kleinen Unwohlseins oder Zipperleins oder Lustlosigkeiten auftauchen. Mir scheint, man nähme ein so wertvolles Gut wie Gesundheit nicht dann wirklich ernst, wenn man es auf einen unerreichbaren Sockel stellt, sondern wenn man ihm den gebührenden Platz im Kreis von anderen wichtigen Gütern einräumt.

Übrigens: Auf solche Ideen, die stark zu meiner geistig-seelischen Gesundheit beitragen, komme ich sehr oft beim Gehen. Wäre doch mal einen Versuch wert...