Hauptsache
gesund! Die Bedeutung dieser Volksweisheit lässt sich daran ermessen, wie oft
wir unseren Mitmenschen Gesundheit wünschen, beim Zuprosten ebenso wie bei
Neujahrswünschen. Und wir wünschen uns Gesundheit auch selbst. In allen
einschlägigen Umfragen darüber, was wichtig sei im Leben, steht Gesundheit
immer ganz zuoberst auf dem Treppchen. Was bedeutet, dass sich fast alle
Menschen über den sehr hohen Stellenwert von Gesundheit einig sind.
Mit
einer weiteren Volksweisheit könnten wir das Thema bereits abhaken: Gesundheit
ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Die Sphäre der
Gesundheit ist damit nicht nur eine der zentralsten Lebensqualitäts-Sphären,
sie bildet zusammen mit einem ausreichenden gesicherten Einkommen vielmehr die
Basis jeder Lebensqualität. Woran offenbar kaum jemand zweifelt.
Nichtsdestotrotz
bleiben mindestens zwei Fragen: Gibt es ohne Gesundheit tatsächlich keine
Lebensqualität? Und von welcher Gesundheit sprechen wir eigentlich?
Die
erste Frage wird von unzähligen Menschen beantwortet, die krank oder behindert
sind und dennoch eine hohe Lebensqualität empfinden. Von außen gesehen mag ihre
Lebensqualität eingeschränkt erscheinen, doch die allein entscheidende
Perspektive in Sachen Lebensqualität ist jene von innen, also die subjektive.
Und die kann tatsächlich anders aussehen. Studien haben gezeigt, dass Menschen,
die durch einen Unfall eine Behinderung erlitten, ihre Lebensqualität in der
ersten Zeit, wie zu erwarten, tiefer einstufen. Doch nach einiger Zeit haben
sie sich oft mit der neuen Situation arrangiert und empfinden eine ähnlich hohe
Lebensqualität wie vor dem Unfall. Es gibt also offenkundig keinen allgemein
verbindlichen direkten Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebensqualität.
Was
nicht heißt, Gesundheit sei für Lebensqualität unwichtig. Bloß, welche
Gesundheit? Früher war es einfacher: Gesundheit gleich Abwesenheit von
Krankheit. Wer nicht offenkundig krank war, galt als gesund. Kleinere
Befindlichkeitsstörungen oder Verletzungen wurden als normal betrachtet.
Arztbesuche waren den schwereren Fällen vorbehalten.
Dieses
Bild von Gesundheit hat sich gewandelt. Seit geraumer Zeit wird Gesundheit von
der einschlägigen UNO-Organisation als Zustand vollkommenen körperlichen,
geistigen und seelischen Wohlbefindens definiert. Und diese Definition hat sich
massiv in unseren Köpfen eingenistet. So sehr, dass manche Menschen
Lebensqualität mit permanenter Wellness verwechseln.
Man
muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: vollkommenes körperliches,
geistiges und seelisches Wohlbefinden. So was wie ein strahlend blauer und
wolkenloser Himmel. Ein schönes Idealbild, fürwahr, aber eines mit Folgen. Denn
kaum taucht an diesem Himmel eine Wolke auf, sehen wir bereits eine gesundheitliche
Störung, und ist der Himmel gar bedeckt, empfinden wir das als Katastrophe
– bevor ein einziger Tropfen Regen gefallen ist.
Doch
so wenig ein permanenter wolkenloser Himmel in unseren Breitengraden eine
realistische Option bildet, so wenig ist ein permanentes und umfassendes
Wohlbefinden ein realistisches Ziel für uns Normalsterbliche. Gewiss, es mag
ein paar von ihrem genetischen Erbe gesegnete menschliche Exemplare geben, die
ohne Unterlass gut drauf sind und ständig vor Energie und Wohlbefinden sprühen,
doch die meisten von uns haben gelegentlich ein Befinden, spüren ein
Zipperlein, sind geistig nicht hellwach, sehen sich und die Welt grau
verhangen. Und sind damit, streng genommen, nicht gesund.
Nur:
Krank sind wie deswegen noch lange nicht. Ganz offensichtlich gibt es zwischen
gesund und krank eine ziemlich breite Grauzone, was uns einmal mehr lehrt, dass
wir es im realen Leben selten mit digitalen Phänomenen zu tun haben, die nur
zwei Zustände kennen. Das Leben ist analog, das heißt, zwischen extrem gesund
und extrem krank gibt es viele, viele Zwischenstufen. Angesichts dessen macht
es wenig Sinn, nur den einen Extrempol als Gesundheit zu definieren und den
ganzen Rest als Krankheit.
Sinnlos
ist das deswegen, weil wir damit alle heillos überfordern, das
Gesundheits-System ebenso wie uns selbst. Wenn wir für jedes Wehwehchen eine
ganze Palette medizinischer Dienstleistungen in Anspruch nehmen, wird das
System unbezahlbar, ganz abgesehen davon, dass aus dieser Mentalität
folgerichtig der nächste Schritt entsteht, nämlich der Anspruch darauf, mit
allen Mitteln noch gesünder als gesund gemacht zu werden.
Doch
vor allem überfordern wir uns selbst. Wenn wir nämlich der Überzeugung
anhängen, Lebensqualität gäbe es nur bei absolut verstandener Gesundheit,
rennen wir einem illusionären Ziel nach. Idealziele, und um ein solches handelt
es sich dabei, sind nicht dazu da, wörtlich genommen zu werden. Sie sollen
vielmehr eine Richtung vorgeben, einen Ort im Zeitstrom, auf den wir uns zu
bewegen, den wir aber kaum jemals ganz erreichen können.
So
ist auch Gesundheit, verstanden als permanentes umfassendes Wohlbefinden, ein
lohnendes Idealziel, dem näher zu kommen eine Menge Investitionen lohnt. Die
Kernbotschaft des Gesundheits-Booms der letzten Jahre und Jahrzehnte ist
richtig: Es lohnt sich, etwas für seine eigene Gesundheit zu tun. Die Frage ist
nur, wie viel etwas ist. Macht es wirklich Sinn, dass wir alle zu
Gesundheits-Aposteln werden, die kein anderes Thema mehr haben als ihre eigene
Gesundheit?
Nein.
Auch in der Lebensqualitäts-Sphäre Gesundheit gilt nämlich das Gesetz des
abnehmenden Grenznutzens: Je näher wir dem Idealziel Perfektion kommen, ob auf
dem Feld Gesundheit oder anderswo, desto mehr Aufwand müssen wir für den
nächsten Schritt treiben. Diese Kurve wächst exponentiell: Die allerersten
Schritte sind kinderleicht, der letzte unendlich schwer. Absolute Gesundheit
wäre also theoretisch möglich, doch um sie zu erreichen, müssten wir einen
unendlichen Aufwand treiben.
Das
wiederum lohnt sich auf keinen Fall, denn es würde ja bedeuten, dass wir alle
anderen Lebensqualitäts-Sphären völlig vernachlässigen müssten. So wichtig
Gesundheit für unsere Lebensqualität ist, so sehr müssen wir auch in dieser
Sphäre mit der Gewissheit leben, dass unsere Ressourcen beschränkt sind. Mit
möglichst wenig Aufwand möglichst viel Gesundheit erreichen, müsste also die
Devise lauten. Doch wo dieser Punkt von Balance und richtigem Maß liegt, muss
und kann auch wieder nur jede und jeder für sich selbst herausfinden.
Dabei
empfiehlt sich übrigens eine weitere Differenzierung, jene zwischen
körperlicher auf der einen und geistig-seelischer Gesundheit auf der anderen
Seite. Dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Facetten von Gesundheit
handelt, sehen wir an ihrer gegenläufigen Entwicklung im Verlauf der
Lebenszeit: Unsere körperliche Gesundheit nimmt beim Altern ab,
geistig-seelisch dagegen sind ältere Menschen gesünder als jüngere, wie Studien
immer wieder zeigen.
Das
ist gut zu wissen, denn entsprechend können wir unseren Erwartungshorizont der
realistischen Gesundheits-Ziele einstellen. Was entscheidenden Einfluss auf
unsere Lebensqualität haben kann, denn bekanntlich hängt die Zufriedenheit mit
dieser davon ab, was wir erwarten. Erwarten wir also für unsere Gesundheit
nicht zu viel. Aber auch nicht zu wenig...