Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

29. Ansteckungs-Chancen

Moses ist von der Vorstellung von Memen, die sich wie Viren neue Wirte suchen, um sich zu vermehren und auszubreiten, sehr angetan. Er hat die Grundzüge der Genetik und der Epidemiologie schnell begriffen und sieht jetzt echte Ansteckungs-Chancen für seine Ideen.

Das Problem ist natürlich, dass Moses bei seiner Bildungs-Schnellbleiche nicht wirklich mitbekommen hat, welch lausiges Image Viren und ihre Ansteckungs-Prozesse haben. Viren attackieren und sind bedrohlich, vor Ansteckungs-Gefahren aller Art haben wir Angst. Und können bestenfalls auf ein gut ausgebildetes Immunsystem bauen.

So verwurzelt ist dieses negative Bild, dass wir sofort zu wissen glauben, was gemeint ist, wenn von Computer-Viren die Rede ist. Auch diese attackieren von außen und dringen in unsere Rechner ein, den sie als unschuldigen Wirt benutzen, um Kopien von sich herzustellen und damit andere Computer zu infizieren. Womit wir schon mitten in der Welt geistiger Ansteckungs-Prozesse sind.

Und auch diese sind vorwiegend angstbesetzt. Wie zum Beispiel in der Geschichte von den heimlichen Verführern. Da gab es doch vor rund fünfzig Jahren die Meldung, in einem amerikanischen Kino seien den Besuchern unterschwellige, das heißt nur ganz kurz eingeblendete Werbebotschaften (so kurz, dass man sie bewusst nicht wahrnahm) für Coca-Cola präsentiert worden, was in der Pause den Ansatz dieser Brause spürbar in die Höhe schnellen ließ. Und obwohl sich das Experiment nie wiederholen ließ, ja später als ausgemachter Schwindel enttarnt wurde, war das Mem in der Welt: Die Werbung kann und will uns mit unsichtbaren, aber wirksamen Botschaften manipulieren.

Nun muss man wissen, dass sich dieses in den Zeiten des kalten Krieges ereignete, als auch in vielen Science-Fiction-Filmen die Angst vor unsichtbaren und heimtückischen Feinden grassierte, die sich in die Körper und Köpfe netter US-Girls und -Boys einschlichen und diese in gefährliche Monster verwandelten. Und es war die Zeit eines florierenden Hygiene-Wahns, in dessen Gefolge bei jeder passenden und vor allem unpassenden Gelegenheit Gallonen von Desinfektionsmitteln flossen. Diesen Hintergrund zu kennen, könnte nützlich sein, wenn wir uns jetzt Richard Brodie zuwenden, einem ehemaligen Microsoft-Mann und erfolgreichen Unternehmer, der schon 1996 ein Buch mit dem Titel „Virus of the Mind“ publizierte, ein frühes Werk der Wissenschaft von den Memen.

Allerdings ein ziemlich parteiisches. Das Titelbild ziert ein Gehirn, in das eine Spritze gesteckt wird, wohl um es mit bösen Viren zu infizieren. Und eine Besprechung des Buchs beginnt reißerisch so: »Unser Gehirn wird fortlaufend von „Viren des Geistes“ infiziert und verändert, wenn diese vor allem durch das Drücken der Knöpfe „Angst“, „Essen“ und „Sex“ das kognitive Immunsystem unterlaufen.«

Bild und Text sprechen Bände. Offenbar ist unser Geist etwas Festes und Unverrückbares wie unser Körper und bedarf genau wie dieser des Schutzes vor unbefugten Eindringlingen. Kein offenes System also, das vom Austausch mit seiner Umwelt lebt und sich dank dessen ständig weiter entwickelt, sondern eher eine feste Burg, für die jede Veränderung bedrohlich ist. Tja, so kann man es offenbar auch sehen, wenngleich das nicht mein Bild vom Geist ist.

Jedenfalls nicht mein vorherrschendes. Natürlich ist unser Geist kein vollständig offenes System, er hat seine stabilen Anteile und will diese zu Recht aufrechterhalten. Und natürlich gibt es Meme, die uns nicht gut tun, ja ausgesprochen ungesund sind, weshalb es gut ist, dass wir zu deren Abwehr tatsächlich so etwas wie ein geistiges Immunsystem entwickeln und pflegen. Das gilt übrigens für unsere persönliche, individuelle Ebene genau so wie für kulturelle Gemeinschaften: Ohne geistiges Immunsystem werden wir allzu leicht zur Beute von schädlichen und destruktiven Ideen.

Doch auch geistige Immunsysteme können außer Kontrolle geraten und sich dann wahllos gegen alles wenden. Dann werden sämtliche Falltüren und Rollläden herunter gelassen, kein frischer Hauch kann mehr eindringen, und das verteidigte geistige Gebäude bleibt zwar stehen, doch seine Insassen drohen an Muffigkeit zu ersticken. Wahrlich keine schöne Aussicht, und ganz bestimmt nicht im Sinne der kulturellen Evolution.

Dieser Hang zur geistigen Abschottung ist zum Teil uralt: Die Evolution hat ihre konservativen Seiten, und diese übernehmen wir, einem geistigen Trägheits-Prinzip folgend, gerne, indem wir neue Meme mit den alten nach der Art von „das haben wir immer so gemacht“ abwehren. Neu dazu gekommen ist beim modernen Menschen die explosionsartige Zunahme der schieren Anzahl neuer Meme, die täglich auf uns einströmen. Diese Informationsüberflutung macht es uns schwer, zwischen nützlichen und schädlichen Memen zu unterscheiden, und darauf reagieren wir, indem wir einfach gar keine mehr zulassen.

Das ist verständlich, aber nicht sehr klug. Es wäre vermessen anzunehmen, der derzeitige Stand unseres Meme-Portfolios sei schon der Weisheit letzter Schluss. Unser Geist hat einen angeborenen Drang, sich weiter zu entwickeln, und dazu braucht er Anregungen und frischen Wind von außen, oder, anders gesagt, Offenheit gegenüber neuen Memen, die um seine Aufmerksamkeit buhlen.

Wir müssen diese neuen Meme ja nicht genau so übernehmen, wie sie bei uns ankommen. Wir können sie modifizieren, sie neu kombinieren und sie so insgesamt für uns passend machen. Geistige Impulse sind keine Blaupausen, sondern Rohmaterialien zu unserem beliebigen Gebrauch.

Eines steht allerdings fest: Meme buhlen tatsächlich um unser vielleicht kostbarstes Gut, um unsere Aufmerksamkeit. Neue Meme können sich nämlich nicht einfach unbemerkt durch den Hintereingang in unseren Geist schmuggeln, sie haben nur dann eine Chance, dort aufgenommen zu werden, wenn sie durch den Haupteingang der bewussten Aufmerksamkeit eingelassen werden. Also brauchen wir dort einen sehr tüchtigen Türhüter.

Dieser muss fähig sein, nicht nur Ansteckungs-Risiken zu erkennen, sondern eben auch Ansteckungs-Chancen. Lachen, so weiß der Volksmund, ist ansteckend. Eine gute Idee auch, ebenso starke Emotionen wie Begeisterung. Noch weiß der Volksmund nicht, welch große Ansteckungs-Chancen in starken Memen stecken, deren Zeit gekommen ist. Aber vielleicht weiß es das Volk ja trotzdem schon. Oder wenigstens ein bedeutsamer Teil desselbigen...

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Immunsysteme

Ein lieber alter Freund, dem ich schon den einen oder anderen geistigen Impuls verdanke, versucht derzeit, mich von einer neuen Theorie zu überzeugen. Es geht darin, wenn ich es richtig verstanden habe, um eine unablässige Aufblähung aller Himmelskörper, also auch der Erde, was irgendwie das Modell der Kontinentalverschiebung hinfällig machen würde. Mein Freund jedenfalls wird ganz aufgeregt, wenn er davon erzählt.

Dummerweise (für ihn) merke ich, dass meine Lust, jeder dahergelaufenen wissenschaftlichen Theorie mein Ohr zu leihen, selbst wenn sie noch so abseitig klingt, im Laufe der Jahre beträchtlich nachgelassen hat. Vor allem fühle ich mich immer weniger zum Schiedsrichter berufen, der darüber entscheidet, ob ein solches neues Mem etwas taugt oder nicht. Ist mir einfach zu aufwändig geworden. Schließlich müsste ich, wenn die Pro-Argumente halbwegs überzeugend klingen, auch die Contra-Argumente suchen, und dann erst noch entscheiden, welche gewichtiger und relevanter sind. Wie sollte ich das im vorliegenden Fall mit meinen doch eher rudimentären kosmologischen und geologischen Kenntnissen aber auch bewerkstelligen?

Da verlasse ich mich doch lieber auf die bewährten Selektions-Prozesse der kulturellen Evolution. Wenn die Theorie wirklich was taugt, wird sie sich schon durchsetzen, dann war ich im schlechtesten Fall nicht von Anfang an ihr Anhänger, was sie verschmerzen wird. Und wenn sie sich nicht durchsetzt, habe ich keine Aufmerksamkeit verschwendet. Dazu kommt ein Element meines geistigen Immunsystems, das ich auch als Impuls von außen übernommen habe: So wahnsinnig wichtig ist es für mein persönliches Leben nicht, ob die Aufblähungstheorie stimmt oder nicht.

Zum Glück (für mich) hegt mein geistiges Immunsystems bisher keine totalitären Ansprüche. Es lässt durchaus nach wie vor neue Meme durch. Für ein anderes neues Modell aus den Wissenschaften interessiere ich mich beispielsweise sehr, nämlich die Epigenetik. Mich fasziniert die Idee, dass es nicht nur auf unsere Gene ankommt, sondern auch auf die Schalter, die diese in Betrieb setzen oder inaktiv machen. Ja, es mehren sich die Hinweise, dass der Stand dieser Schalter von gemachten Erfahrungen nicht nur bestimmt wird, sondern dass diese einmal erworbene Schalterstellung sich über Generationen hinweg vererben kann. Immerhin würde dies bedeuten, dass die bisher gültige Doktrin, erworbene Eigenschaften ließen sich nicht vererben, ganz neu bedacht werden muss. Mit solchen neuen Memen angesteckt zu werden, betrachte ich tatsächlich als große Chance.

Und wieder einmal übe ich das gute alte Lied vom richtigen Maß, von Gleichgewicht und Balance. Offen zu bleiben für ansteckende Begeisterung über frische Meme, und mir zugleich treu zu bleiben, ist eine echte Herausforderung für meinen Geist. Doch solche Herausforderungen erhalten bekanntlich (oder jedenfalls nach meinen Erfahrungen) äußerst lebendig...