Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

31. Die Erleuchtung hat schon begonnen

Nachdem Moses seine Pläne, zur öffentlichen Figur zu werden, aufgegeben hat, mischt er sich des Öfteren inkognito unter Menschen, um deren Sicht der Welt zu erfahren. Zusätzlich vertieft er sich in allerlei offizielle und obskure Umfragergebnisse zwecks weiterer Erforschung dessen, was man als kollektives Bewusstsein bezeichnen könnte. Eines Tages kommt er zum Philosophen, um diesem seine neusten Erkenntnisse mitzuteilen. Auf seinem Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Euphorie und Zerknirschung.

»Tja, ich muss wohl immer noch viel lernen. Meine Vorstellungen sind noch stark geprägt von meiner Vergangenheit. Da bin ich doch glatt und ganz und gar selbstverständlich davon ausgegangen, so ein Ansteckungsprozess eines Mems müsse immer von einer einzigen Quelle ausgehen. Auch wenn mir schon klar war, dass das nicht mehr, wie ich es gewohnt war, von oben nach unten geht, so habe ich es auch auf einer horizontalen Ebene doch so gesehen, dass man einen Stein ins Wasser wirft, von dem aus dann konzentrische Wellen nach außen fließen.

Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Ich habe mir den Prozess der Verbreitung eines Mems so vorgestellt, dass da einer in finsterster Dunkelheit eine Fackel entzündet, und dieses Licht dann weitergibt, zunächst an einen inneren Kreis von Jüngern, und dann darüber hinaus in die  ganze Welt. Halt etwa so, wie der Sohn von Demdaoben seine Ideen verbreitet hat.

Und natürlich habe ich mich selbst als diesen ersten Fackelanzünder gesehen, als jenen Urahn der Aufklärung, auf den man eines Tages die Erleuchtung der ganzen Welt zurückführen wird. Dieses Bild von meiner Rolle in der Welt gab meinem Leben Sinn, und einen solchen braucht man noch viel mehr als sonst, wenn man so viele Jahre in der Kühltruhe verbracht hat.«

Der Philosoph nickt mitfühlend und hört weiterhin zu.

»Jetzt aber weiß ich, dass ich als erster Erleuchtungs-Fackelträger der Nation gar nicht gebraucht werde. Und zwar ganz einfach, weil die Erleuchtung schon begonnen hat. Für viele Menschen, so habe ich jetzt erfahren, ist die Idee vom Leitwert Lebensqualität gar nicht neu. Viele Menschen haben schon vor längerer oder kürzerer Zeit damit angefangen, über ihre eigenen Werte nachzudenken. Sie stellen sich die Frage, worum es im Leben wirklich gehen soll, und sie kommen dabei zu ganz ähnlichen Schlüssen wie ich. Der Tanz um das goldene Kalb ist es jedenfalls nicht. Dafür platzieren sie Lebensqualität ganz oben in der Hitliste ihrer heißen Werte.

Und das bedeutet: Das Mem „Lebensqualität statt Lebensstandard“ hat bereits viele Wirte gefunden. Es geht nicht mehr darum, mühsam die ersten Köpfe zu infizieren, sie sind es längst. Und von diesen schon infizierten Köpfen aus kann die Ansteckung jetzt weitergehen. Ich kann dazu nicht mehr viel beitragen, das Mem ist in der Welt und wird seinen Weg von allein gehen.«

Mit diesen zuversichtlichen Worten auf den Lippen tritt Moses 1.0 ab und verschwindet aus unserer Geschichte in den wohlverdienten Ruhestand. Und macht damit den Weg frei für seine zweite und verbesserte Version: Moses 2.0.

Immerhin hat er uns noch vor seinem Abgang auf einige wesentliche Punkte hingewiesen. Zum Beispiel darauf, dass es tatsächlich keine Autoritäten mehr gibt, die einen so fundamentalen Werte-Wandel wie jenen vom Lebensstandard zur Lebensqualität von oben herab befehlen und durchsetzen können. Und darauf, dass es keinen Raum mehr gibt für die Träume vom großen Guru, der vom Strahlen der Erleuchtung gepackt wird und dieses Licht dann gnädigst häppchenweise an seine Anhänger weiter gibt.

Beides ist, auch das hat Moses 1.0 gut erkannt, auch gar nicht mehr nötig. Ideen, deren Zeit gekommen ist, reifen heut zu Tage unabhängig voneinander in vielen Köpfen gleichzeitig. Natürlich entwickeln sich diese Meme nicht in allen Köpfen exakt zur gleichen Gestalt, aber Artverwandtschaften sind unübersehbar. Gemeinsam sind all diesen Memen weniger die Antworten und die Formulierungen, und vielmehr die Fragestellungen: Was ist mir wichtig in meinem Leben? Nach welchen Leitwerten will ich meine Lebensgestaltung orientieren? Was bedeutet Lebensqualität für mich ganz persönlich?

Die Gemeinsamkeit besteht also darin, dass Themen wie Lebensgestaltung und Lebensqualität oder Werte und Sinn auf den Radarschirm der bewussten Aufmerksamkeit gelangen. Weil diese Menschen ihre bewusste Aufmerksamkeit für diese Themenfelder pflegen, habe ich sie als „Bewusstseins-Elite“ bezeichnet. Das war nicht unbedingt geschickt, denn der Begriff der Elite weckt zumindest im deutschsprachigen Raum immer noch gewaltige Abwehrkräfte, was den Blick für den eigentlichen Inhalt des Begriffs der Bewusstseins-Elite leider manchmal vernebelt: Als nicht-elitäre Elite übernimmt die Bewusstseins-Elite eine Vorreiterrolle im Werte-Wandel, weil sie sich früher und intensiver als der Rest der Bevölkerung bewusst damit auseinandersetzt.

Eine Elite ist definitionsgemäß immer eine Minderheit, was sicher auch für die Bewusstseins-Elite gilt. Wie klein oder wie groß diese Minderheit ist, ist naturgemäß schwer zu sagen, zumal das immer auch davon abhängt, wie eng oder weit man die definitorischen Grenzen zieht. Ich habe das Glück, seit vielen Jahren per Umfragen mit einem Netz von Menschen verbunden zu sein, für die Bewusstseins-Elite kein Schimpfwort ist, sondern die sich mit dieser Bezeichnung durchaus identifizieren können. Im Sinne der Idee von der kollektiven Intelligenz lag es nahe, dieses Netz selbst zu fragen, wie groß es die Bewusstseins-Elite einschätze. Die Antwort des Orakels: Ungefähr ein Sechstel der erwachsenen Bevölkerung.

Das muss man nicht wörtlich nehmen, aber um ein paar Millionen Menschen allein im deutschsprachigen Raum handelt es sich offenbar allemal. Dafür hört man merkwürdig wenig von ihr. Jede zahlenmäßig noch so unbedeutende Minderheit schafft es heute in die Medien, aber davon, wie viele Menschen für sich bereits den fundamentalen Werte-Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität vollzogen haben, liest man weder in der Zeitung noch hört man in Rundfunk und Fernsehen.

Das ändert allerdings nichts daran, dass Moses 1.0 Recht hat: Das Mem „Lebensqualität statt Lebensstandard“ hat sich bereits in vielen Köpfen festgesetzt. Ich vermute übrigens: auch in Ihrem. Schließlich richten Sie jetzt schon dreißig Kapitel lang Ihre bewusste Aufmerksamkeit auf das Thema Lebensqualität. Und das geht nur, weil es in Ihrem Inneren dafür bereits eine Entsprechung gibt...

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Insellage

Ein paar Jahre lang bestand meine Haupttätigkeit darin, Memen in meinem Kopf bei ihrer Mutation zuzugucken und dann die Ergebnisse aufzuschreiben. Etwas populärer formuliert: Ich habe, auf Spaziergängen und an meinem Schreibtisch, Visionen entwickelt und diese in Form von „Business-Fiction“ für Unternehmen formuliert. Visionen habe ich übrigens immer als Zukunfts-Szenarios verstanden, die denkbar und wünschbar zugleich sind.

Die Resonanz auf diese also durchaus realistischen Visionen war, um es mal vorsichtig auszudrücken, bescheiden. So keimte in mir natürlich der Verdacht, meine geistige Welt sei wirklich eine abgeschottete Insel im Mainstream, und ich begann, mir allmählich ernsthafte Sorgen über meinen Geisteszustand zu machen.

In dieser Phase startete ich SensoNet, mein Netz, das stellvertretend für die Bewusstseins-Elite steht. Ursprünglich wollte ich damit einfach ein wenig Zukunftsforschung betreiben, doch allmählich ging mir auf, worum es wirklich ging: Ich wollte wissen, ob es da draußen Menschen gibt, die ähnlich ticken wie ich, die sich jedenfalls ähnliche Fragen wie jene nach Werten und Lebensqualität stellen.

Die Antwort auf meinen Ruf »Hallo, ist da draußen jemand?« war eindeutig: Ich bin zwar eine Insel, aber es gibt viele davon. Meine eigenen Fragen treffen auf Resonanz, wie die immer wieder erfreuliche Beteiligung an meinen Befragungen zeigt, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, welche die Ergebnisse immer einsehen können, haben dieselbe Einsicht: Wir sind nicht allein.

Und dieses Bewusstsein ist auch dringend nötig, denn eine allzu ausgeprägte Insellage ist der Ausbreitung eines an sich guten Mems nicht eben förderlich, wie das Bild unten zeigt: Auf meiner Lieblingsinsel Kreta, und dort irgendwo im westlichen Niemandsland, habe ich diese Tafel entdeckt. Rund dreißig Jahre, nachdem die deutsche Luftwaffe Tod und Verderben über Kreta gebracht hatte, beteiligte sie sich am Aufbau eines Friedensparks in Form eines Arboretums, also einer lebendigen Baumsammlung. Jetzt, noch einmal rund dreißig Jahre später, wirkt die Ausführung der sicher gut gemeinten Idee ziemlich vergammelt. Die Bäume wachsen zwar prächtig, aber die Schilder mit den botanischen Namen sind völlig verrostet.

Bei mir einsamem Spaziergänger allerdings hat diese etwas sehr insellagige Form der Meme-Verbreitung durchaus gewirkt. Ich habe über Frieden gegrübelt und mich an der üppigen und vielfältigen Natur gefreut. Und noch Stoff zum Nachdenken gefunden, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: Eine längeren Allee, die mit deutscher Gründlichkeit sehr gleichmäßig mit Aleppo-Kiefern bepflanzt worden war, ist mittlerweile herangewachsen. Von Regelmäßigkeit ist nicht mehr viel zu sehen, denn die Kiefern sind gewachsen wie seit eh und je: krumm.