Nachdem
Moses seine Pläne, zur öffentlichen Figur zu werden, aufgegeben hat, mischt er
sich des Öfteren inkognito unter Menschen, um deren Sicht der Welt zu erfahren.
Zusätzlich vertieft er sich in allerlei offizielle und obskure Umfragergebnisse
zwecks weiterer Erforschung dessen, was man als kollektives Bewusstsein
bezeichnen könnte. Eines Tages kommt er zum Philosophen, um diesem seine
neusten Erkenntnisse mitzuteilen. Auf seinem Gesicht spiegelt sich eine Mischung
aus Euphorie und Zerknirschung.
»Tja,
ich muss wohl immer noch viel lernen. Meine Vorstellungen sind noch stark
geprägt von meiner Vergangenheit. Da bin ich doch glatt und ganz und gar
selbstverständlich davon ausgegangen, so ein Ansteckungsprozess eines Mems
müsse immer von einer einzigen Quelle ausgehen. Auch wenn mir schon klar war,
dass das nicht mehr, wie ich es gewohnt war, von oben nach unten geht, so habe
ich es auch auf einer horizontalen Ebene doch so gesehen, dass man einen Stein
ins Wasser wirft, von dem aus dann konzentrische Wellen nach außen fließen.
Oder,
um ein anderes Bild zu verwenden: Ich habe mir den Prozess der Verbreitung
eines Mems so vorgestellt, dass da einer in finsterster Dunkelheit eine Fackel
entzündet, und dieses Licht dann weitergibt, zunächst an einen inneren Kreis
von Jüngern, und dann darüber hinaus in die ganze Welt. Halt etwa so, wie der Sohn von Demdaoben seine
Ideen verbreitet hat.
Und
natürlich habe ich mich selbst als diesen ersten Fackelanzünder gesehen, als jenen
Urahn der Aufklärung, auf den man eines Tages die Erleuchtung der ganzen Welt
zurückführen wird. Dieses Bild von meiner Rolle in der Welt gab meinem Leben
Sinn, und einen solchen braucht man noch viel mehr als sonst, wenn man so viele
Jahre in der Kühltruhe verbracht hat.«
Der
Philosoph nickt mitfühlend und hört weiterhin zu.
»Jetzt
aber weiß ich, dass ich als erster Erleuchtungs-Fackelträger der Nation gar
nicht gebraucht werde. Und zwar ganz einfach, weil die Erleuchtung schon
begonnen hat. Für viele Menschen, so habe ich jetzt erfahren, ist die Idee vom
Leitwert Lebensqualität gar nicht neu. Viele Menschen haben schon vor längerer
oder kürzerer Zeit damit angefangen, über ihre eigenen Werte nachzudenken. Sie
stellen sich die Frage, worum es im Leben wirklich gehen soll, und sie kommen
dabei zu ganz ähnlichen Schlüssen wie ich. Der Tanz um das goldene Kalb ist es
jedenfalls nicht. Dafür platzieren sie Lebensqualität ganz oben in der Hitliste
ihrer heißen Werte.
Und
das bedeutet: Das Mem „Lebensqualität statt Lebensstandard“ hat bereits viele
Wirte gefunden. Es geht nicht mehr darum, mühsam die ersten Köpfe zu
infizieren, sie sind es längst. Und von diesen schon infizierten Köpfen aus
kann die Ansteckung jetzt weitergehen. Ich kann dazu nicht mehr viel beitragen,
das Mem ist in der Welt und wird seinen Weg von allein gehen.«
Mit
diesen zuversichtlichen Worten auf den Lippen tritt Moses 1.0 ab und
verschwindet aus unserer Geschichte in den wohlverdienten Ruhestand. Und macht
damit den Weg frei für seine zweite und verbesserte Version: Moses 2.0.
Immerhin
hat er uns noch vor seinem Abgang auf einige wesentliche Punkte hingewiesen.
Zum Beispiel darauf, dass es tatsächlich keine Autoritäten mehr gibt, die einen
so fundamentalen Werte-Wandel wie jenen vom Lebensstandard zur Lebensqualität
von oben herab befehlen und durchsetzen können. Und darauf, dass es keinen Raum
mehr gibt für die Träume vom großen Guru, der vom Strahlen der Erleuchtung
gepackt wird und dieses Licht dann gnädigst häppchenweise an seine Anhänger
weiter gibt.
Beides
ist, auch das hat Moses 1.0 gut erkannt, auch gar nicht mehr nötig. Ideen,
deren Zeit gekommen ist, reifen heut zu Tage unabhängig voneinander in vielen
Köpfen gleichzeitig. Natürlich entwickeln sich diese Meme nicht in allen Köpfen
exakt zur gleichen Gestalt, aber Artverwandtschaften sind unübersehbar.
Gemeinsam sind all diesen Memen weniger die Antworten und die Formulierungen,
und vielmehr die Fragestellungen: Was ist mir wichtig in meinem Leben? Nach
welchen Leitwerten will ich meine Lebensgestaltung orientieren? Was bedeutet
Lebensqualität für mich ganz persönlich?
Die
Gemeinsamkeit besteht also darin, dass Themen wie Lebensgestaltung und
Lebensqualität oder Werte und Sinn auf den Radarschirm der bewussten
Aufmerksamkeit gelangen. Weil diese Menschen ihre bewusste Aufmerksamkeit für
diese Themenfelder pflegen, habe ich sie als „Bewusstseins-Elite“ bezeichnet.
Das war nicht unbedingt geschickt, denn der Begriff der Elite weckt zumindest
im deutschsprachigen Raum immer noch gewaltige Abwehrkräfte, was den Blick für
den eigentlichen Inhalt des Begriffs der Bewusstseins-Elite leider manchmal
vernebelt: Als nicht-elitäre Elite übernimmt die Bewusstseins-Elite eine
Vorreiterrolle im Werte-Wandel, weil sie sich früher und intensiver als der
Rest der Bevölkerung bewusst damit auseinandersetzt.
Eine
Elite ist definitionsgemäß immer eine Minderheit, was sicher auch für die
Bewusstseins-Elite gilt. Wie klein oder wie groß diese Minderheit ist, ist
naturgemäß schwer zu sagen, zumal das immer auch davon abhängt, wie eng oder
weit man die definitorischen Grenzen zieht. Ich habe das Glück, seit vielen
Jahren per Umfragen mit einem Netz von Menschen verbunden zu sein, für die
Bewusstseins-Elite kein Schimpfwort ist, sondern die sich mit dieser
Bezeichnung durchaus identifizieren können. Im Sinne der Idee von der
kollektiven Intelligenz lag es nahe, dieses Netz selbst zu fragen, wie groß es
die Bewusstseins-Elite einschätze. Die Antwort des Orakels: Ungefähr ein
Sechstel der erwachsenen Bevölkerung.
Das
muss man nicht wörtlich nehmen, aber um ein paar Millionen Menschen allein im
deutschsprachigen Raum handelt es sich offenbar allemal. Dafür hört man
merkwürdig wenig von ihr. Jede zahlenmäßig noch so unbedeutende Minderheit
schafft es heute in die Medien, aber davon, wie viele Menschen für sich bereits
den fundamentalen Werte-Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität vollzogen
haben, liest man weder in der Zeitung noch hört man in Rundfunk und Fernsehen.
Das
ändert allerdings nichts daran, dass Moses 1.0 Recht hat: Das Mem
„Lebensqualität statt Lebensstandard“ hat sich bereits in vielen Köpfen
festgesetzt. Ich vermute übrigens: auch in Ihrem. Schließlich richten Sie jetzt
schon dreißig Kapitel lang Ihre bewusste Aufmerksamkeit auf das Thema
Lebensqualität. Und das geht nur, weil es in Ihrem Inneren dafür bereits eine
Entsprechung gibt...