Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

33. Netzwerk-Vorbild Gehirn

Ein Cartoon aus der berühmten „Peanuts“-Reihe: Lucy und Linus blicken in ein sternenübersähtes All. Lucy erklärt über drei Zeichnungen hinweg: »Das Weltall ist viel zu groß... So viel Platz brauchen wir wirklich nicht... Die meisten der Sterne und Planeten sind viel zu groß! Das gesamte Sonnensystem müsste angepasst werden...« In der vierten Zeichnung fragt Linus zurück: »Was können wir da so als Einzelner tun?«

Die Komik dieser Situation entsteht natürlich aus dem krassen Missverhältnis zwischen der gestellten Aufgabe, nämlich der Renovation des Weltalls, und den bescheidenen Kräften eines einzelnen irdenen Menschleins. So ähnlich müsste es auch einer einzelnen Gehirnzelle gehen, wenn ihr zugemutet würde, für einen Kurswechsel des ganzen Gehirns zu sorgen. Das wäre eine glatte Überforderung, ist doch eine einzelne Gehirnzelle, mit Verlaub, nicht besonders intelligent.

Zum Glück aber gibt es in unserem Gehirn etwa hundert Milliarden einzelner Gehirnzellen. Doch auch das wäre noch nicht sehr beeindruckend, wenn nicht jede einzelne Zelle mit etwa tausend anderen verbunden wäre und somit mit diesen Informationen austauschen kann. Noch wissen wir längst nicht alles über unser Gehirn und seine Funktionsweise, aber eines steht fest: Es ist diese enorme Vernetzung zwischen den einzelnen Gehirnzellen, die so wunderbare Leistungen wie eine Beethoven-Symphonie hervorbringt.

Auch bei anderen Gesamtorganismen, die sich aus relativ dummen Einzelwesen zusammensetzen, etwa bei Ameisenstaaten, lässt sich dieses Phänomen beobachten: Erst die Vernetzung, also der Informationsaustausch zwischen vielen Einzelelementen, hebt das Ganze auf jene höhere Stufe, auf der es wirklich mehr ist als die Summe seiner Teile.

So fern liegt es also nicht, auch menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften als solche Gesamtorganismen zu betrachten, deren Einzelelemente dann wir Individuen wären. Das hat allerdings den für unser Selbstwertgefühl unangenehmen Nebeneffekt, dass wir uns Einzelmenschen – verglichen mit dem Ganzen – auch als „nicht sehr intelligent“ bezeichnen müssen. Was ja, immer relativ gesehen, so falsch nicht ist: Als Gemeinschaft sind wir tatsächlich zu Leistungen fähig, die weit außerhalb der Reichweite eines Individuums liegen. Vernetzung ist also auch für menschliche Gemeinschaften ein Erfolgsgeheimnis.

Informationsaustausch spielt bei allen Lebewesen, die in Gemeinschaften leben, eine wichtige Rolle, und die Evolution hat dafür diverse effiziente Kommunikationsformen entwickelt. Bei der Gattung Mensch hat sich diese Entwicklung beschleunigt und intensiviert. Erst kam die Sprache, dann die Schrift, dann der Buchdruck als wirksame Methode für die Verbreitung von Schriften. Es folgte die Erfindung von Telefon, Radio und Fernsehen – und dann die große Digitalisierung aller Information im Computer und deren Vernetzung via Internet. Mittlerweile sind wir theoretisch fast am Ziel aller Träume in Sachen Informationsaustausch: Jede Information ist überall auf dem Globus jederzeit und ohne Zeitverzögerung zugänglich.

Vor über zwanzig Jahren habe ich mal einen originellen Gesellschaftstheoretiker kennen gelernt, der auch für die Informatikindustrie arbeitete. Er vertrat die These, die zunehmende digitale Vernetzung der Menschheit führe zu einem „Global Brain“, also zu einer Art Superorganismus, dessen Leistungsfähigkeit dank intensiver Vernetzung sich von den Möglichkeiten eines Einzelmenschen so sehr unterscheiden werde wie die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns im Vergleich zu jener einer einzelnen Gehirnzelle.

Diese Aussicht empfand ich damals uneingeschränkt als Verheißung, so als ob ein globales kollektives Bewusstsein automatisch zu paradiesischen Verhältnissen führen müsse. Nach den Erfahrungen mit der Finanzkrise bin ich da nicht mehr so sicher. Schließlich sind all die Banken und Anlageinstitutionen weltweit perfekt miteinander vernetzt, dem gegenseitigen Borgen und Leihen und Fließen von Geldströmen steht nichts mehr im Wege. So perfekt funktioniert diese Vernetzung, dass zum Schluss niemand mehr weiß, wer wem wie viel schuldet – einer der Gründe, die das Finanzsystem in den Schlamassel geritten haben.

Eigentlich wäre es ja absehbar gewesen, dass ein globales Gehirn nicht automatisch ins Paradies führt, schließlich produziert auch ein menschliches Einzelgehirn sowohl Paradiesisches als auch Höllisches. Wir können also nicht einfach auf die Entstehung eines globalen Gehirns warten und hoffen, damit werde alles gut, wir müssen schon auch darauf achten und Einfluss nehmen, was in diesem Gehirn abgeht.

Womit wir wieder bei der Frage wären, wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen. Selbstredend stoßen wir auch hier wieder auf das Vernetzungsprinzip, denn ohne Austausch gibt es keine Ansteckungs-Chancen für die von uns so hoch geschätzten Lebensqualitäts-Meme.

Ein guter alter Freund hat mir neulich von seiner Schwester erzählt, die zusammen mit ihrem Mann und ein paar guten Freunden irgendwo in der Provinz lebt. Zweifellos führe dieses Grüppchen ein vorbildliches Leben im Sinne des Leitwerts Lebensqualität, gehöre mit Sicherheit zur Bewusstseins-Elite und sei damit die ideale Trägerschaft für unsere Werte-Wandel-Meme. Nur eben: Dieses Fähnlein der sieben Aufrechten lebe ein sehr auf die inneren Beziehungen ausgerichtetes, selbstgenügsames Leben mit sehr wenig Außenkontakten. Ähnliches kann man einer aktuellen Studie über die viel gerühmten LOHAS entnehmen, die Anhänger eines Lebensstils der Gesundheit und der Nachhaltigkeit. Auch in diesem Milieu spielen Selbstgenügsamkeit und Zurückgezogenheit eine große Rolle. Wir haben es also mit Trägern der Lebensqualitäts-Meme zu tun, die sich zwar haben anstecken lassen, aber wegen ihrer isolierten Insellage wenig zur weiteren Ausbreitung dieser Meme beitragen.

Und das ist im Sinne des Wandels vom Lebensstandard zur Lebensqualität natürlich alles andere als ideal. Für eine erfolgreiche Ausbreitung der Lebensqualitäts-Meme braucht es drei Elemente: Zunächst das Bewusstsein der bereits „Angesteckten“, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Dann die Erkenntnis, dass sie nicht allein sind. Und schließlich die Bereitschaft, sich zu vernetzen und auszutauschen – mit Gleichgesinnten und mit Menschen, die andere Standpunkte vertreten. Ohne das funktioniert Moses 2.0 nicht...

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Ein Hoch auf das Internet

Zu den wichtigsten Gründen dafür, dass ich gerne in der Jetztzeit lebe und keinerlei nostalgische Sehnsüchte nach einer näheren oder ferneren Vergangenheit verspüre, gehört das Internet. Es ermöglicht mir, so zu leben, wie es mir am besten entspricht: zurückgezogen und doch mit der Welt verbunden.

Noch vor einem Vierteljahrhundert wäre diese Lebensweise undenkbar gewesen. Ich kann das gut behaupten, habe ich doch all die Übergänge erlebt. Als ich mal ein gedrucktes Magazin herausgegeben habe, wurden die Texte und Bilder noch von Hand geklebt, und diese Vorlagen dann mühsam belichtet. Wenn ich heute ein Buch produziere, kann ich es am eigenen Computer bis zur Druckreife vorbereiten und das Ergebnis online zum Verlag schicken.

Oder nehmen wir die Befragungen meines Netzes. Am Anfang gab es noch gedruckte und per Post verschickte Fragebogen. Man brauchte einen Layouter, einen Drucker, Hilfspersonal zum Versand, flinke Finger, welche die Antworten eintippten, ein Rechenzentrum für die statistische Auswertung. Und die Ergebnisse standen nur jenen zur Verfügung, die zufällig Zugang zur gedruckten Version hatten.

Heute kann ich den Fragebogen selber online gestalten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden per E-Mail benachrichtigt und beantworten die Fragen ebenfalls online. Die Ergebnisse kommen auf meinen Computer, wo bei Bedarf auch eine ausgeklügelte statistische Auswertungssoftware zur Verfügung steht. Die Ergebnisse stelle ich wieder online ins Internet, wo sie allen zugänglich sind, die mehr oder weniger zufällig darüber stolpern.

Mit anderen Worten: Ich kann den ganzen Prozess gestalten und steuern, ohne meinen Schreibtisch zu verlassen und ohne auf externe Dienste angewiesen zu sein (von den Betreibern all dieser nützlichen Internet-Dienstleistungen natürlich mal abgesehen). Und Ähnliches gilt auch für meine anderen Tätigkeiten, für die früher die räumliche Nähe zu einem Zentrum unabdingbar gewesen wäre, und die ich heute von meinem Lebensort am Rande der Welt aus ausüben kann. Das verdient schon einen Lobgesang.

Denn das Internet ermöglicht es mir, mich auf meine Weise optimal zu vernetzen, mit Ihnen zum Beispiel. Ich kann meine Meme verbreiten, ohne auf das Wohlwollen der Türsteher vor den klassischen Medien angewiesen zu sein, und ich kann mir alle Arten von Memen ansehen, die mich interessieren könnten. Zwar kenne ich die meisten Menschen, mit denen ich vernetzt bin, nicht persönlich, aber dank diverser E-Mails weiß ich, dass meine Botschaften da draußen mancherorts ankommen. Was mich immer wieder zum Weitermachen motiviert.

Natürlich vergesse ich ob all der Segnungen der virtuellen Vernetzungsmöglichkeiten nicht meine realen und leibhaftigen Beziehungen. Deswegen werde ich jetzt trotz heftigen Schneegestöbers die zehn Minuten zu meinen Nachbarn und Freunden spazieren, um mit ihnen einen wohl verdienten Feierabendschluck zu genießen...