DIE BEWUSSTSEINS-ELITE

 

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Agenten der Evolution

Erschienen in ALPHA, der Kadermarkt der Schweiz, 24. September 2006

Die Bewusstseins-Elite

Agenten der Evolution

Von Dr. Andreas Giger*

Mitarbeitende, die Wert auf Lebensqualität oder gar Lebenssinn legen, gelten im Unternehmen als Weicheier oder Störenfriede. Das ist ein Irrtum.

Im knallharten Wirtschaftsleben von heute zählen nur die harten Fakten, sprich die Zahlen. Wer darauf besteht, es ginge dabei auch um weiche, immaterielle Werte, ist ein Träumer oder Spinner, und wer gar Visionen ins Wirtschaftsleben einbringen will, gehört in die Klapsmühle. Wenn wir die unvermeidlichen Sonntagsreden mal ausklammern, scheint das die einhellige Überzeugung in der Wirtschaft zu sein — jedenfalls in den Chefetagen.

Wahrer wird dieser Glaube dadurch nicht. Er übersieht ein entscheidendes Phänomen: In übersättigten Märkten erfolgt Wertschöpfung immer mehr durch Werte — und zwar durch immaterielle wie etwa Lebensqualität oder Sinn. Nur wer die Lebensqualitäts-Konten seiner Kunden äufnet, statt sie mit Lebensqualitäts-Killern zu verscheuchen, hat eine Chance in den Märkten von morgen.

Welche Werte eine Marke oder ein Unternehmen verkörpert, lebt und kommuniziert, wird immer mehr zum kleinen, aber entscheidenden Unterschied bei ansonsten weitgehend vergleichbaren Angeboten. Die Übereinstimmung der Werte von Marke und Markt wird zum Kaufargument. Verkörpert die Marke die richtigen Werte, nämlich jene der Kundin, ist das Angebot dieser genug wert, um den Kaufpreis zu berappen.

Gedankliche Auseinandersetzung

Die Potenziale dieser Form von Tauschbeziehung, die nicht ganz neu ist, aber zu verstärkter Blüte gelangen wird, nutzen können nur Unternehmen, die sich ihrer eigenen Werte wie auch jener ihrer Kunden bewusst sind. Es mag begnadete Unternehmer geben, die rein intuitiv die richtigen Werte leben, ohne einen bewussten Gedanken daran zu verschwenden, doch die meisten kommen um eine bewusste gedankliche Auseinandersetzung mit Werten nicht herum.

Wie aber organisiert ein Unternehmen einen Prozess der Bewusstwerdung von Werten? Es wird sich, wie immer in solchen Fällen, zunächst reflexartig nach anerkannten Spezialisten umsehen. Und dabei kaum fündig werden. Es gibt dafür schlicht keine staatlich konzessionierten formalen Ausbildungsgänge mit Diplomabschluss und folglich auch keine der üblichen Spezialisten für dieses und jenes. Macht aber nichts.

Ideal von Lebenskunst

Verzichtet man nämlich auf den Gedanken, Spezialisten, also Menschen, die etwas Spezielles besonders gut können, liessen sich ausschliesslich durch formale Ausbildungsgänge erzeugen — was in den HR-Abteilungen leider offenbar immer schwerer fällt — dann öffnet sich der Blick für ein überraschendes Phänomen: Die Spezialsten für die bewusste Wahrnehmung von Werten gibt es schon. Und zwar in (fast) jedem Unternehmen.

Es handelt sich dabei um die Angehörigen der Bewusstseins-Elite. Diesen Begriff habe ich nicht erfunden, eher entdeckt, und er ist noch kaum verbreitet, was sich aber ändern könnte. Er meint im Grunde etwas Einfaches: Jede Gesellschaft braucht in Zeiten, in denen sich auch die Werte-Landschaft im Umbruch befindet, Menschen mit einem sensiblen Gespür für den Werte-Wandel, Menschen, die sich früher als andere bewusst mit der Frage auseinandersetzen, nach welchen Werten sie ihr Leben gestalten wollen.

Während andere noch fröhlich und weitgehend unbewusst durchs Leben wieseln, denken jene darüber nach, was ihnen wie viel wert ist. Sie fragen sich, wie sie mehr Lebensqualität und Sinn in ihr Leben bringen, und sie betrachten die freie und eigenverantwortliche Lebensgestaltung als Herausforderung, bei deren Bewältigung sie sich mehr und mehr dem Ideal von Lebens-Kunst annähern möchten.

Indem sie dies heute schon tun, nehmen sie eine Entwicklung vorweg, die sich verstärken wird. Ihre Spezialisierung besteht also darin, sich frühzeitig bewusst mit Themen auseinanderzusetzen, die zwar in der Luft liegen, aber noch nicht richtig ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind. Diese gleichsam seismographische Funktion hilft der Gemeinschaft, sich frühzeitig auf kommende Themen einzustellen. So prägt die Bewussteins-Elite die Zukunft sanft und unspektakulär, aber nachhaltig.

Markt und Marketing kongruent

Die Bewusstseins-Elite ist eine nicht-elitäre Elite, sie verfügt über keine Macht und keine Privilegien. Sie ist auch alles andere als eine uniforme Elite, besteht vielmehr aus ausgeprägten Individualisten, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, sich für weiche Themen wie Werte, wie Lebensgestaltung und Lebenskunst, und wie Lebensqualität und Lebenssinn zu interessieren, wobei hier Interesse durchaus im Sinne von Thomas Mann als intellektuelle Form von Liebe betrachtet werden kann.

Die Bewusstseins-Elite bildet naturgemäss eine Minderheit von zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung — Tendenz wachsend. Sie findet sich, auch nicht so erstaunlich, eher in den höheren Bildungsschichten und in der Kreativen Klasse. Das ist es aber dann auch schon mit ihren statistischen Merkmalen, man findet die Bewusstseins-Elite nämlich tatsächlich überall, manchmal auch an ganz erstaunlichen Orten.

Warum also nicht auch in Ihrem Unternehmen? In der Marketing-Branche jedenfalls habe ich bereits auch eine Bewusstseins-Elite entdeckt, und sie tickt ganz ähnlich wie jene draussen im Markt. Diese Kongruenz zwischen Markt und Marketing eröffnet natürlich ungeahnte Perspektiven: Die Bewusstseins-Elite im Marketing versteht Anliegen und Sprache jener im Markt, und das sind beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kommunikation.

Werte-Wissen anzapfen

Damit sind die Potenziale der menschlichen Ressource "Bewusstseins-Elite im Unternehmen" aber noch längst nicht ausgeschöpft. Gelänge es nämlich, deren Wissen um den Werte-Wandel im Unternehmen, im Markt und in der Gesellschaft voll auszuschöpfen, wäre das Unternehmen für die Zukunft merklich besser gerüstet.

Das erfordert keine teuren und aufwändigen Übungen, sondern primär eine andere Mentalität. Statt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche die einseitige Ausrichtung an materiellen Werten kritisch in Frage stellen, als Querulanten und Störenfriede zu behandeln, könnte man sie ja auch als Agenten der Evolution des Unternehmens betrachten, die Farbe in das Grau reibungsloser Abläufe bringen und damit für die kleinen, aber feinen Unterschiede sorgen, von denen Markterfolge immer mehr abhängen.

Dass diese Mentalität vorderhand vielerorts nicht mehr als ein schönes Ideal ist, erfahren täglich Menschen, die sich nicht stromlinienförmig in die vorherrschende Jagd nach immer noch mehr vom selben einordnen wollen, sondern es wagen, auch mal nach dem Sinn vom Ganzen zu fragen. Zu ihrem Selbstbewusstsein kann es beitragen zu wissen, dass man Teil einer noch weitgehend unbekannten, aber zweifellos existierenden Art von Menschen ist, die sich mit Fug und Recht als Bewusstseins-Elite bezeichnen darf. Was dann so klingen kann: Ich bin wirklich froh, dass ich nicht eine seltsame Exotin in dieser sachlichen Welt bin, sondern halt einfach ein bisschen zu früh dran, und erst noch zu einer Elite gehöre.

Unternehmen, die dieses Bewusstsein fördern, werden davon profitieren, in Form von mehr Offenheit für den Werte-Wandel und dadurch mehr Kreativität nach innen wie nach aussen.


*Dr. Andreas Giger, Jahrgang 1951, lebt als unabhängiger Zukunfts-Philosoph, Autor und Fotograf im appenzellischen Wald. Er ist Autor des soeben beim Verlag J. Kamphausen erschienenen Buchs Die Bewusstseins-Elite — Wie sie unsere Zukunft prägt (ca. 240 Seiten, Fr. 39.-).