Rettet
das Individuum!
Jetzt ist es amtlich,
was ich immer schon geahnt habe. Studien haben zweifelsfrei erwiesen,
dass Brainstormings für die Katz sind. Seit 1981 erforscht der
heute in Utrecht wirkende Wolfgang Stroebe Brainstorming; seine Bilanz
fällt verheerend aus: "Es ist noch schlimmer, als wir lange
Zeit gedacht haben. Die Einzelnen haben mehr und bessere Ideen als
echte Gruppen, wobei der Produktivitätsverlust bis zu fünfzig
Prozent betragen kann."
(zitiert nach
"St.Galler Tagblatt, 2.7.2005)
Werden nun die Arbeitgeber
sogleich alles tun, um die Konsequenzen dieser Erkenntnis umzusetzen?
Werden sie für die einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Bedingungen schaffen, unter denen diese ein Höchstmass an individueller
Kreativität entfalten können, die einen im stillen Kämmerlein,
die zweiten in der Badewanne, die dritten auf schöpferischen
Spaziergängen?
Die Wahrscheinlichkeit
ist leider klein. So braucht es denn niemanden zu wundern, dass nur
eine Minderheit aller Beschäftigten wirklich begeistert bei der
Sache ist. Der grosse Rest arbeitet mehr oder weniger lustlos, weil
er zu wenig Sinn in seiner Arbeit sieht. Sinn aber entsteht nur, wenn
die Menschen ihre Individualität bestmöglich in ihre Arbeit
einbringen können.
Im Zusammenhang mit
dem Jubeljahr konnte man die These hören, Einstein hätte
vor hundert Jahren seine bahnbrechenden Ideen niemals haben und formulieren
können, wenn er in eine Universität eingebunden gewesen
wäre, statt sein individuelles Leben als Beamter am Berner Patentamt
zu leben. Ein alter Freund, der als Professor die Institution Universität
von innen kennen gelernt hat, konnte diese These nur bestätigen.
Er hätte neulich eine Satire gelesen, in der die grossen staatlichen
Forschungsstiftungen Einsteins Forschungsgesuche abgeschmettert hätten
- sehr plausibel, wie er mir versicherte. Der Individualismus Einsteins
hätte im heutigen Wissenschaftsbetrieb keine Chance mehr.
Es ist schon seltsam.
Während alle Welt den Megatrend Individualisierung beschwört
- je nach Standort bejubelnd oder bejammernd - wird Individualität
in vielen wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft keineswegs geschätzt.
Besonderen Nachholbedarf hat die Wirtschaft - und die Beraterzunft.
Dazu habe ich ein Plädoyer für eine neue, individuellere
Kultur der Beratung geschrieben:
Mehr Sokrates bitte!
Mühe mit der Individualität
seiner Teile hat derzeit auch Europa. Doch nur, wenn Europa erkennt,
dass sich Eigensinn und Einigung nicht ausschliessen, sondern einander
im Gegenteil bedingen, hat es eine Zukunft. Mein erster Essay in einer
Reihe von Überlegungen zum Thema "Was können wir von
der Wiege lernen? - Europäische Sinnsuche auf Kreta" heisst
Inseln in der Insel.
Vielleicht überlegen
sich die Anhänger der grossen Vereinheitlichunstheorien ja mal,
warum, und vor allem wozu unsere grosse Lehrmeisterin, die Evolution,
eigentlich so individuell einzigartige Dinge wie unseren Fingerabdruck
hervorgebracht hat. Oder unsere Iris. Oder unsere Stimme. Nichts davon
ist absolut identisch mit einem anderen Menschen. Ähnlich ja,
aber nie genau gleich.
Unverwechselbare Individuen
sind wir aber nicht nur bei solchen biometrischen Daten. Dasselbe
gilt für unseren Stoffwechsel, unsere Zeitrhythmen, vor allem
aber auch für unsere Fähigkeiten und Talente und für
unsere bevorzugten Arbeitsweisen.
Individualität
beschränkt sich übrigen keineswegs auf uns Menschen. Auch
Tiere und Pflanzen, und selbst Steine und Strömungen sind nie
genau gleich wie andere, haben immer ihre einzigartige Eigenheit.
Das gilt sogar für Blech und Plastik, wie meine neue Photoserie
easy metall zeigt.
Es lässt sich nicht
leugnen: Individualität macht Sinn. Einen jeweils individuellen,
eigenen Sinn: Eigensinn. Das darf ich zum Glück in meinen Tätigkeiten
wie Schreiben und Photographieren erfahren, denn die sind nach wie
vor Reiche der Individualität. Doch Spielräume für
Individualität gibt es überall. Diese zu suchen und auszufüllen,
liegt vermutlich in unserer evolutionären Bestimmung.
Und es gibt noch einen
- unschlagbaren - Grund, der uns immer wieder für die Rettung
des Individuums motivieren kann. Hermann Hesse hat ihn formuliert:
Eigensinn macht Spass!
In diesem Sinne
wünsche Ihnen einen eigensinnigen Sommer:
Andreas Giger
Das Editorial 01-05 "Mehr
Gelassenheit bitte !" finden Sie hier.
Das Editorial 04-05 "Keine
Angst vor grossen Worten" finden Sie
hier.
Das Editorial 05-05 "Wert-volle
Papamania " finden Sie hier.