Gigerheimat: Editorial (Mai 2005)
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Wert-volle Papamania

Gäbe es innerhalb der kulturellen Evolution eine Abteilung für überraschende Logik, so hätte sie mit der wochenlangen Papamania (was wir vorsichtig mit Papst-Kult übersetzen wollen) ganze Arbeit geleistet. Dank Papamania ist nämlich schneller als erwartet ein Thema in der gesellschaftlichen Agenda nach vorne gerrückt, was der evolutionären Logik zufolge dort unbedingt hingehört: Werte.

Fasziniert starrte die (Medien-)Welt auf ein Phänomen, das vom Label-Wahn besoffene Trendforscher schon die "generation JP 2"nannten: Hunderttausend Jugendliche hatten einen uralten Papst mit ebenso alten Ansichten zum Idol erkoren. Und schienen sogar bereit, dieses Vertrauen auch in dessen Nachfolger zu investieren, bot doch dieser doch als bester Spezi des Alten offensichtlich Gewähr für Kontinuität. Ist also eine ganze Generation auf dem Weg zurück, marsch, marsch, zurück zu den so genannten "alten Werten" ?

Gemach. Zunächst wissen die jugendlichen Papst-Anhänger sehr wohl zu unterscheiden zwischen jenen Werten, die sie mit ihm teilen (etwa Frieden, Kommunion oder Lebensfreude) und jenen anderen Werten aus dem Bereich der Sexualmoral und Geschlechterrollen, die wohl dem Papst ein Herzensanliegen sind, nicht aber den jungen Menschen, wie die Berge von benutzten Kondomen nach jedem katholischen Weltjugendtag eindrücklich belegen.

Und zum anderen erwählen gerade junge Menschen, wie jede Umfrage zeigt, gerne auch charismatische Menschen von der religiösen Konkurrenz zum Idol, vor allem den Dalai Lama. Was sie nicht daran hindert, auch dessen Werte kritisch zu hinterfragen und nur jene zu übernehmen, die zur eigenen Lebenswirklichkeit passen.

Man muss weder an die päpstliche Unfehlbarkeit noch an die Wiedergeburt glauben, um vom inneren Feuer fasziniert zu sein, mit dem beide Religionsführer für ihre Werte einstehen und sie leben. Geliebt werden sie dafür, dass sie Werte verkörpern, wobei es weniger wichtig ist, um welche Werte es sich dabei handelt.

Das deutet auf ein gewaltiges Defizit hin, einen Mangel an starken, unverbrüchlichen Werten. Man mochte als Beobachter von der Art, wie der letzte Papst sein Leiden und Sterben inszenierte, angezogen oder abgestossen sein, es blieb der Eindruck, dass das die Werte eines Menschen im Zweifelsfall sogar stärker waren als seine körperlichen Bedürfniss, geschweige denn seine Wünsche.

Das hat uns daran erinnert, dass Werte tatsächlich im Zentrum unserer Orientierungs- und Entscheidungssysteme sitzen. Das, was uns etwas wert ist, was uns wichtig ist - und nichts anderes sind Werte - entscheidet mehr noch als unsere zufälligen Wünsche und "Bedürfnisse" darüber, was wir aus dem Meer an Möglichkeiten unserer Multioptions-Gesellschaft auswählen, und wie wir unser Leben gestalten. Werte sind die von Lebensgestalterinnen und Lebensgestaltern dringend gebrauchten Orientierungsmarken auf dem Lebenspfad.

Das war schon immer so. Neu ist, dass wir erstmals in der Menschheitsgeschichte im grösseren Massstab, unsere Werte selber wählen dürfen und müssen. Selbst gute Katholiken wissen, dass ihnen kein Papst die Entscheidung über die eigenen Werte abnehmen kann, und wir anderen wissen das längst.

Das heisst, so lange nun auch wieder nicht. Erst vor etwa dreissig Jahren hat im Westen jene kulturelle Evolution begonnen, die wir als Indivdiualisierung bezeichnen, was nichts anderes meint als die Tatsache, dass wir jetzt auch für unsere Ziele und damit für unsere Werte selber verantwortlich sind.

Auch in den Massstäben der kulturellen Evolution ist das eine kurze Zeit, um einen so entscheidenen Schritt zu bewältigen. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass das passiert ist, was bei so tiefreichenden Entwicklungen meistens geschieht: Verwirrung und Chaos. Die alte Ordnung, in der höhere Mächte über unsere Werte bestimmt haben, ist zwar, aller kurzfristigen Papamania zum Trotz, entschwunden, eine neue noch nicht in Sicht.

In dieser chaotischen Übergangsphase befinden wir uns noch. Doch langsam zeichnet sich die ebenfalls unvermeidliche nächste Phase einer solchen Entwicklung ab: Aus dem Chaos entsteht eine neue Ordnung. Unser Werte-Universum ist ordentlich durchgeschüttelt worden, doch jetzt werden neue Muster, Zusammenhänge und Ordnungen sichtbar.

Diese neue Ordnung der Werte wird nicht einfach eine schlechte Kopie irgendeiner alten sein. Der neue Papst dürfte Recht behalten mit seiner Befrüchtung, sein enges Werte-Korsett könnte für Viele tatsūchlich zu einengend werden. Eine Werte-Ordnung der Zukunft gleicht eher einem weiten und lockeren Gewand, unter dem viele Werte, auch gegensūtzliche, Platz haben.

Mit der Papamania ist die Diskussion darüber, welche Werte das sein könnten und sein werden, eröffnet. Sie ist dringend erwünscht. Von Werten leiten lassen wir uns nämlich immer, nur ist uns das selten bewusst, funktioniert doch der Prozess nach dem Prinzip des Autopiloten normalerweise ganz von selbst. Doch in nicht normalen Zeiten, in solchen der Neuorientierung wie den unsrigen, genügt der Autopilot nicht mehr. Da müssen wir das Steuer bewusst selber in die Hand nehmen. Und da gehört die Frage, wohin wir überhaupt wollen, welchen Werten wir auf unserer Lebensbahn folgen wollen, ganz zuvorderst hin.

Aus den Tiefen unseres unbewussten Selbst gehört die Frage nach den uns leitenden Werten herauf geholt ins bewusste Licht innerer und äusserer Dialoge. In diesem öffentlichen Diskurs werden wir feststellen, dass unser gemeinsames Werte-Kostum keine Uniform mehr sein kann, zu wertvoll ist uns unsere individuelle Freiheit gerade bei der Wahl der Werte. Doch das wird uns nicht daran hindern, auf eine ganze Reihe von Werte zu stossen, die wir sehr wohl miteinander teilen, selbst wenn wir sie unterschiedlich auslegen. Dazu werden notwendigerweise Ich-zentrierte Werte wie etwa Selbstverwirklichung oder Eigen-Sinn ebenso gehören wie Gemeinschaftswerte à la Respekt.

Dieser Kanon an geteilten Werten könnte die Basis einer neuen gemeinsamen Identität moderner Kulturen im westlichen Sinne werden, einer Identität, die dann alle Chancen hätte, zum starken und attraktiven Gegenpol jener Kulturen zu werden, die keine anderen Werte neben sich dulden. Vom "alten Europa", das Gott sei Dank nicht gleichzusetzen ist mit dem Vatikan, kann in dieser Hinsicht noch einiges erwartet werden.

Die Diskussion um unsere Werte hat angefangen, Papamania sei Dank. Ja, auch die Evolution geht manchmal seltsame und unerforschliche Wege...

 


Das Editorial 04-05 "Keine Angst vor grossen Worten!" finden Sie hier.

Das Editorial 01-05 "Mehr Gelassenheit bitte !" finden Sie hier.


 

 

 

 

 

 


Beachten Sie zu diesem Thema auch:

Hot Spots im Werte-Wandel. Eine Übersicht über meine aktuellen Vortragsthemen.

Werte im Wandel. Vom Werte der Werte in Wirtschaft und Gesellschaft. Meine neuste Zukunftsstudie.

 

Ein weiterer, mehr poetischer Beitrag zum Thema Gelassenheit ist die erste Ausgabe meiner neuen Bild-Text-Serie im "Appenzeller Magazin" namens "A. ist überall". Sie trägt den Titel Nebelgrenze.