Gäbe
es innerhalb der kulturellen Evolution eine Abteilung für überraschende
Logik, so hätte sie mit der wochenlangen Papamania (was wir
vorsichtig mit Papst-Kult übersetzen wollen) ganze Arbeit geleistet.
Dank Papamania ist nämlich schneller als erwartet ein Thema
in der gesellschaftlichen Agenda nach vorne gerrückt, was der
evolutionären Logik zufolge dort unbedingt hingehört:
Werte.
Fasziniert
starrte die (Medien-)Welt auf ein Phänomen, das vom Label-Wahn
besoffene Trendforscher schon die "generation JP 2"nannten:
Hunderttausend Jugendliche hatten einen uralten Papst mit ebenso
alten Ansichten zum Idol erkoren. Und schienen sogar bereit, dieses
Vertrauen auch in dessen Nachfolger zu investieren, bot doch dieser
doch als bester Spezi des Alten offensichtlich Gewähr für
Kontinuität. Ist also eine ganze Generation auf dem Weg zurück,
marsch, marsch, zurück zu den so genannten "alten Werten"
?
Gemach.
Zunächst wissen die jugendlichen Papst-Anhänger sehr wohl
zu unterscheiden zwischen jenen Werten, die sie mit ihm teilen (etwa
Frieden, Kommunion oder Lebensfreude) und jenen anderen Werten aus
dem Bereich der Sexualmoral und Geschlechterrollen, die wohl dem
Papst ein Herzensanliegen sind, nicht aber den jungen Menschen,
wie die Berge von benutzten Kondomen nach jedem katholischen Weltjugendtag
eindrücklich belegen.
Und
zum anderen erwählen gerade junge Menschen, wie jede Umfrage
zeigt, gerne auch charismatische Menschen von der religiösen
Konkurrenz zum Idol, vor allem den Dalai Lama. Was sie nicht daran
hindert, auch dessen Werte kritisch zu hinterfragen und nur jene
zu übernehmen, die zur eigenen Lebenswirklichkeit passen.
Man
muss weder an die päpstliche Unfehlbarkeit noch an die Wiedergeburt
glauben, um vom inneren Feuer fasziniert zu sein, mit dem beide
Religionsführer für ihre Werte einstehen und sie leben.
Geliebt werden sie dafür, dass sie Werte verkörpern, wobei
es weniger wichtig ist, um welche Werte es sich dabei handelt.
Das
deutet auf ein gewaltiges Defizit hin, einen Mangel an starken,
unverbrüchlichen Werten. Man mochte als Beobachter von der
Art, wie der letzte Papst sein Leiden und Sterben inszenierte, angezogen
oder abgestossen sein, es blieb der Eindruck, dass das die Werte
eines Menschen im Zweifelsfall sogar stärker waren als seine
körperlichen Bedürfniss, geschweige denn seine Wünsche.
Das
hat uns daran erinnert, dass Werte tatsächlich im Zentrum unserer
Orientierungs- und Entscheidungssysteme sitzen. Das, was uns etwas
wert ist, was uns wichtig ist - und nichts anderes sind Werte -
entscheidet mehr noch als unsere zufälligen Wünsche und
"Bedürfnisse" darüber, was wir aus dem Meer
an Möglichkeiten unserer Multioptions-Gesellschaft auswählen,
und wie wir unser Leben gestalten. Werte sind die von Lebensgestalterinnen
und Lebensgestaltern dringend gebrauchten Orientierungsmarken auf
dem Lebenspfad.
Das
war schon immer so. Neu ist, dass wir erstmals in der Menschheitsgeschichte
im grösseren Massstab, unsere Werte selber wählen dürfen
und müssen. Selbst gute Katholiken wissen, dass ihnen kein
Papst die Entscheidung über die eigenen Werte abnehmen kann,
und wir anderen wissen das längst.
Das
heisst, so lange nun auch wieder nicht. Erst vor etwa dreissig Jahren
hat im Westen jene kulturelle Evolution begonnen, die wir als Indivdiualisierung
bezeichnen, was nichts anderes meint als die Tatsache, dass wir
jetzt auch für unsere Ziele und damit für unsere Werte
selber verantwortlich sind.
Auch
in den Massstäben der kulturellen Evolution ist das eine kurze
Zeit, um einen so entscheidenen Schritt zu bewältigen. Deshalb
ist es nicht erstaunlich, dass das passiert ist, was bei so tiefreichenden
Entwicklungen meistens geschieht: Verwirrung und Chaos. Die alte
Ordnung, in der höhere Mächte über unsere Werte bestimmt
haben, ist zwar, aller kurzfristigen Papamania zum Trotz, entschwunden,
eine neue noch nicht in Sicht.
In
dieser chaotischen Übergangsphase befinden wir uns noch. Doch
langsam zeichnet sich die ebenfalls unvermeidliche nächste
Phase einer solchen Entwicklung ab: Aus dem Chaos entsteht eine
neue Ordnung. Unser Werte-Universum ist ordentlich durchgeschüttelt
worden, doch jetzt werden neue Muster, Zusammenhänge und Ordnungen
sichtbar.
Diese
neue Ordnung der Werte wird nicht einfach eine schlechte Kopie irgendeiner
alten sein. Der neue Papst dürfte Recht behalten mit seiner
Befrüchtung, sein enges Werte-Korsett könnte für
Viele tatsūchlich zu einengend werden. Eine Werte-Ordnung der Zukunft
gleicht eher einem weiten und lockeren Gewand, unter dem viele Werte,
auch gegensūtzliche, Platz haben.
Mit
der Papamania ist die Diskussion darüber, welche Werte das
sein könnten und sein werden, eröffnet. Sie ist dringend
erwünscht. Von Werten leiten lassen wir uns nämlich immer,
nur ist uns das selten bewusst, funktioniert doch der Prozess nach
dem Prinzip des Autopiloten normalerweise ganz von selbst. Doch
in nicht normalen Zeiten, in solchen der Neuorientierung wie den
unsrigen, genügt der Autopilot nicht mehr. Da müssen wir
das Steuer bewusst selber in die Hand nehmen. Und da gehört
die Frage, wohin wir überhaupt wollen, welchen Werten wir auf
unserer Lebensbahn folgen wollen, ganz zuvorderst hin.
Aus
den Tiefen unseres unbewussten Selbst gehört die Frage nach
den uns leitenden Werten herauf geholt ins bewusste Licht innerer
und äusserer Dialoge. In diesem öffentlichen Diskurs werden
wir feststellen, dass unser gemeinsames Werte-Kostum keine Uniform
mehr sein kann, zu wertvoll ist uns unsere individuelle Freiheit
gerade bei der Wahl der Werte. Doch das wird uns nicht daran hindern,
auf eine ganze Reihe von Werte zu stossen, die wir sehr wohl miteinander
teilen, selbst wenn wir sie unterschiedlich auslegen. Dazu werden
notwendigerweise Ich-zentrierte Werte wie etwa Selbstverwirklichung
oder Eigen-Sinn ebenso gehören wie Gemeinschaftswerte à
la Respekt.
Dieser
Kanon an geteilten Werten könnte die Basis einer neuen gemeinsamen
Identität moderner Kulturen im westlichen Sinne werden, einer
Identität, die dann alle Chancen hätte, zum starken und
attraktiven Gegenpol jener Kulturen zu werden, die keine anderen
Werte neben sich dulden. Vom "alten Europa", das Gott
sei Dank nicht gleichzusetzen ist mit dem Vatikan, kann in dieser
Hinsicht noch einiges erwartet werden.
Die
Diskussion um unsere Werte hat angefangen, Papamania sei Dank. Ja,
auch die Evolution geht manchmal seltsame und unerforschliche Wege...