Lob
der Langsamkeit
"Fahr langsam,
wir haben es eilig!" So soll, gemäß
der Erzählung meiner Großmutter, die eine kluge und weise
Frau war, einst ein wohlgeborener Herr zu seinem Fahrer gesagt haben.
Schade,
dass nicht alle Bosse und Theoretiker eine solche Großmutter
hatten. So predigen sie unverdrossen das Hohelied der Geschwindigkeit.
Heutzutage fressen die Schnellen die Langsamen, Tempo ist alles. Heißt
es.
Nun kann man natürlich
mit hoher Geschwindigkeit auch auf einen Abgrund zu rasen. Wenn man
auf nachhaltigen Erfolg setzt, empfiehlt sich ein langsameres Tempo.
Dies bestätigt ein Zitat aus eiem Buch, das sich übrigens
auf die gute alte langsame Art zu lesen lohnt (Ridderstrale/Nordström:
Karaoke-Kapitalismus. Redline Wirtschaft, 2005):
Das wusste ich natürlich
längst - in der Theorie. Jetzt hat mir das Leben in dieser Angelegenheit
eine praktische Lektion erteilt: Am ersten Abend von zwei Wochen auf
einer geplanten Rundreise durch die griechischen Kykladen-Inseln bin
ich aus einem unerheblichen und schon wieder vergessenen Grund zu
schnell vom Barhocker aufgesprungen. Zack, der Fuss war vertreten
und schwoll ordentlich an, zudem war die Achilleszerre gezerrt.
Das hieß, zwei
Wochen auf der Startinsel zu verbleiben und pro Tag nur ein paar hundert
Meter zu humpeln. Meiner (photographischen) Kreativität hat das
nicht geschadet, im Gegenteil. Durch die Umstände gezwungen,
musste ich einfach meine Augen noch besser aufhalten. Die Bilder-Ernte
fiel jedenfalls quantitativ und qualitativ reich aus. Auch
Langsamkeit kann also Gewinn bringen.
Allerdings:
So langsam möchte ich auch wieder mal richtig schnell gehen können,
wie es sonst meine Art ist. Sicher, ich werde in Zukunft des öftern
die Kunst des Schlenderns pflegen, doch wenn mir danach ist, werde
ich mein Schritttempo auch gerne wieder erhöhen.
Bei
diesen Gedankengängen fällt mir auf, dass ich vor einiger
Zeit miterleben konnte, wie ein ausgesprochener Beschleuniger auf
einen ebenso ausgeprägten Entschleuniger traf. Der Beschleuniger
war der bekannte SPD-Politiker, Publizist und Professor Peter Glotz,
der sich in einem Buch zum Thema der beschleunigten Gesellschaft als
Fan dieser Beschleunigung geoutet hatte, der andere ein alter Freund
von mir, dem Entschleunigung über alles ging. Die beiden waren
fasziniert voneinander. Heute leben sie beide nicht mehr.
Ohne
die Geschichte zu sehr strapazieren zu wollen: Das Festkleben am einen
Geschwindigkeits-Pol scheint nicht sehr bekömmlich. Gesünder
dürfte eine gesunde Mischung aus beidem sein: Da los- (oder auch
weg-)rennen, wo es gefordert ist, und dort langsame Muße pflegen,
wo Übersicht und Weitblick gefragt sind.
Wenn
das Mädchen meiner Tavernen-Wirtin auf Santorini zu schell auf
die Straße lief, rief diese ihm nach: "Sigá, sigá!"
Das heißt zunächst einfach "langsam, langsam!"
und ist das offen deklarierte Lebensmotto auf griechischen Inseln.
Mein Freund, der Hotelier auf Kreta, begrüßt mich jedenfalls
immer mit "sigá, sigá!", wenn ich bei ihm
ankomme und noch die typischen Merkmale normalen mitteleuropäischen
gespeedet Seins zeige.
Von
ihm weiß ich allerdings, dass es nicht nur um Langsamkeit geht.
"Sigá, sigá!" meint vielmehr ein Konzept der
angemessenen Geschwindigkeit. Jedes Tempo hat demnach seine Zeit,
und es gilt, das der jeweiligen Situation angepasste zu finden. Flexibles
Tanzen zwischen den Polen von Langsamkeit und Geschwindigkeit. Alles
eine Frage des richtigen Maßes, der richtigen Mischung.
Dass
es in dieser Mischung in unseren Breitengraden mehr Raum für
Langsamkeit braucht, fängt langsam an, sich als Idee zu verbreiten.
Recht hat sie, die Idee, dass sie sich nicht beeilt. Alle Reifungsprozesse
brauchen ihre Zeit, bestehen aus wenigen heftigen Aufschwüngen
und vielen langsamen Phasen.
Andreas Giger
P.S. Dass es angesichts
dieser derzeit angemessenen Philosophie der Langsamkeit im Moment
keine neuen Beiträge anzukünden gilt, versteht sich (fast)
von selbst. Ebenso, dass sich dieser Zustand bald wieder ändern
wird. Ich wünsche Ihnen einen goldenen Herbst - und schauen Sie
mal wieder rein...