Gigerheimat: Worte
Auto-Evolution / Mail 01

 

FROM: Xenia Futura

TO: Xenia Präsens

DATE: 04.01.2029 21:18:01

SUBJECT: Quanten-Transporte

Liebe Schwester in der Zeit

Um ein Haar hätte ich dieses Mail nun doch mit dem altbiblischen "Fürchte Dich nicht!" angefangen, mit dem die Engel normalerweise Normalsterbliche begrüssen. Das durchaus mit Grund, ist Furcht doch eine ganz normale Reaktion, wenn plötzlich und unverhofft Wesen auftauchen und mit einem kommunizieren, an deren Existenz man allerhöchstens theoretisch geglaubt hat. Nun habe ich zwar noch immer wenig Engelsgleiches an mir, doch das Erscheinen einer leibhaftigen Botschaft aus der Zukunft kann natürlich ebenfalls Furcht auslösen.

Und zwar auch bei Dir. Ich muss es wissen, ich habe es schliesslich selbst erlebt, damals, in meiner Vergangenheit, als ich Du war. Obwohl das jetzt genau einundzwanzig Jahre her ist, erinnere ich mich gut an die damaligen Gefühle. Zunächst war es nur ein leiser Ärger darüber, dass sich jemand offenkundig einen Scherz mit mir erlaubte. Die Furcht kommt erst mit dem übernächsten Abschnitt.

Nur der Vollständigkeit halber rate ich Dir dringend, diesen nächsten Abschnitt sofort zu löschen, sobald Du ihn zwei- oder dreimal gelesen hast. Nötig wäre dieser Rat natürlich nicht, Du siehst ja gleich selbst, dass ich Dich darin an einige Dinge aus unserer gemeinsamen Vergangenheit erinnere, die, wenn sie in unbefugte Hände gerieten, nicht gerade gefährlich wären (so Schlimmes haben wir bekanntlich nie angestellt), aber doch lästig und peinlich. Ich hätte diesen Teil ja gerne als Anhang angelegt, aber das geht auf diesem Kanal leider nicht, also lösche ihn gründlich, bevor Du meine Mails weitergibst. Ich hätte auch gerne darauf verzichtet, aber ich weiss ja auch angesichts unserer skeptischen Grundhaltung, dass Du mir nur glauben wirst, wenn Du siehst, dass ich Dinge aus Deinem Leben weiss, die sonst wirklich niemand wissen kann, weil niemand dabei war, weil es weit abseits von Überwachungskameras geschah, und weil Du definitiv nie mit jemandem darüber gesprochen hast. Aber lies selbst.

Gelöschter Abschnitt

Na, glaubst Du mir nun, dass ich niemand anderes sein kann als Du selbst? Das kann einen schon ganz schön erschüttern... Wobei ich Dich beruhigen kann: Du bist nicht schizophren und schreibst Dir selbst Mails, ohne Dich daran zu erinnern. Ich bin zwar Du, aber eben auch wieder nicht, denn ich bin einundzwanzig Jahre älter als Du und damit eine andere Person, was Du leicht glauben wirst, wenn Du Dich an unsere Ausgabe zwei Jahrzehnte vor Deiner Zeit erinnerst. Deshalb werde ich in diesen Mails von "wir" sprechen, wenn von Zeiten die Rede ist, die wir beide erlebt haben, und von "ich" und "Du", wenn ich Wissen einbringe, das ich erst nach Deiner jetzigen Gegenwart erworben habe.

Das Grübeln, das Dich jetzt befällt, kann ich Dir leider nicht abnehmen, ich musste da ja auch durch. Ob ich aus einer Parallelwelt stamme, zum Beispiel, verbunden durch ein Wurmloch. Oder ob doch ein Dritter mit irgendeiner raffinierten Technik Dein Gehirn angezapft hat. Alles unnötige Sackgassen des Denkens. Bald wirst Du es einsehen: Die logischste Lösung des Rätsels ist die, dass ich tatsächlich eine künftige Ausgabe Deiner selbst bin, die einen Weg gefunden hat, Dir Botschaften aus der Zukunft zu senden. Gut, dafür, dass ich diese Mails exakt einundzwanzig Jahre nach Deiner Gegenwart sende, gibt es keinerlei Beweis, es sei denn, eben diese einundzwanzig Jahre abzuwarten. Aber warum sollte ich Dich und damit mich selbst bescheissen?

Nun kenne ich uns allerdings gut genug um zu wissen, dass wir Erklärungen brauchen, um die Möglichkeit des Glaubens an das Unmögliche zumindest in Betracht zu ziehen. Deshalb schildere ich Dir in aller Kürze, wie sich für mich diese Brücke über die Zeit geöffnet hat, über die ich diese Botschaft in meine Vergangenheit schicken kann:

Vor einiger Zeit habe ich einen jüngeren Mann kennen gelernt. Dabei ist jünger relativ zu verstehen. Du kannst Dir mein aktuelles Alter ja leicht ausrechnen, es ist mittlerweile reichlich hoch, und so war auch der Mann, nennen wir ihn Arthur, nicht mehr wirklich jung, sondern eher in mittleren Jahren.

Wir trafen uns im Rahmen einer lockeren Vereinigung, die sich für das Recht auf das eigene Verschwinden einsetzt. Dazu musst Du wissen, dass sich das Einpflanzen von Chips, die der Lokalisierung dienen, mittlerweile weitgehend durchgesetzt hat. Was zu Deiner Zeit bei Hunden schon Routine war, wird jetzt auch bei Menschen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit praktiziert. Neugeborenen wird automatisch ein solcher Chip unter die Haut gespritzt, und die meisten Erwachsenen haben sich freiwillig dieser Prozedur unterzogen. Gerade uns älteren Menschen wird dieser im Übrigen völlig problem- und schmerzlose Eingriff sehr empfohlen. Sollte sich jemand im Zustand leichter geistiger Verwirrung nämlich verirren, kann er dank dieses Chips und einer hoch entwickelten Ortungstechnik rasch wieder gefunden werden.

Gegen diese scheinbar so vernünftige Idee haben einige Menschen doch etwas einzuwenden. Ihnen missfällt die Idee, jederzeit und ständig lokalisiert werden zu können. Sie betrachten das als unzulässigen Eingriff in ihre persönliche Freiheit und verweigern sich deshalb dem eingepflanzten Ortungschip, jedenfalls so lange, als bis dieser auch ausschaltbar ist. Sie fordern auch für das zweite Drittel des 21. Jahrhunderts ein Recht auf Verschwinden.

Zu dieser Bewegung zähle ich mich selber, und dasselbe tat Arthur. So sind wir uns begegnet. Bald stellten wir fest, dass wir viele Interessen teilen, und so entwickelte sich eine Freundschaft, zu deren Einzelheiten ich Dir aus Gründen, die noch darzulegen sein werden, leider keine Einzelheiten berichten kann.

Arthur war einer der führenden Köpfe einer kleinen, aber feinen Forschungseinrichtung über Quantencomputer. Manchmal erzählte er mir von seinem Forschungsgebiet, und ich gab mir Mühe, ihm dabei so weit zu folgen, wie es mein immer noch beschränktes Wissen um solche Themen zuliess. Immerhin, das weißt Du ja, sind wir fähig zu verstehen, worum es in den Grundzügen geht, auch wenn wir bei der konkreten Ausgestaltung passen müssen.

Das, zusammen mit unserem persönlichen Vertrauensverhältnis, schien Arthur jedoch zu genügen, um mich eines Abends, an dem wir beide nicht mehr ganz nüchtern waren, ins Vertrauen zu ziehen. So erfuhr ich, dass er heimlich, also ohne Wissen seines Instituts, an einem ganz heissen Thema arbeitete: der Informationsübertragung durch die Zeit.

Grundlage war das Phänomen der Quantenverschränkung: Zwei Teilchen können so sehr ineinander verschränkt sein, dass sie selbst bei räumlicher Trennung immer gleichzeitig ihre Zustände ändern. Und zwar wirklich gleichzeitig, also ohne Informationsübertragung auf dem üblichen Weg, die ja höchstens Lichtgeschwindigkeit erreichen kann. Selbst die dafür nötige winzige Zeit brauchen verschränkte Quanten nicht, um zu wissen, was ihr Zwilling gerade tut. Vielmehr vollziehen sie das buchstäblich im selben Augenblick nach.

Dieses Phänomen klingt phantastisch, war aber schon zu Deiner Zeit grundsätzlich nachgewiesen worden. Man sprach auch von Quantenteleportation, wobei es eben nicht um den Transport eines Teilchens geht, sondern ausschliesslich um einen absolut gleichzeitigen Informationsaustausch.

Wie weit die Wissenschaft auf diesem Feld mittlerweile gekommen ist, kann ich Dir leider auch nicht mitteilen, aber Du kannst gewiss sein, dass es ein ganzes Stück ist. Um solche Fragen also drehte sich die Arbeit von Arthur, und eines Tages tauchte in ihm die Frage auf, ob es die Quantenverschränkung, wenn sie denn schon im Raum existiere, nicht auch in der Zeit gäbe. Falls ja, müsste das, was im Raum funktionierte, nämlich Informationsübertragung zwischen verschränkten Quanten, auch in der Zeit möglich sein.

Wie Du siehst, ist es möglich. Natürlich kostete es Arthur viel Zeit und Mühe, die erforderlichen hochkomplexen Berechnungen anzustellen, und ohne die neuste Generation der Quantencomputer, zu denen er dank seiner Stellung Zugang hatte, hätte er es wohl nicht geschafft. So aber fand er heraus, dass Informationsüberragung über die Zeit vermittels Quantenverschränkung möglich sein müsste, wenn auch angesichts der aktuellen technischen Möglichkeiten nur sehr beschränkt.

Der Kanal, den er schliesslich entwickelte, funktionierte nur in einer Zeitrichtung, nämlich rückwärts. Er öffnete nur ein winziges Zeitfenster, nämlich immer genau einundzwanzig Jahre zurück - frag mich bitte nicht, warum dem so ist. Er konnte nur einfache Zeichen und Buchstaben transportieren, so wie Eure klassischen SMS’s auf dem Handy, wenngleich mit einer deutlich höheren Obergrenze, was die Zahl der transportierbaren Zeilen betrifft. Bilder und ähnlich komplexere Dateien liessen sich nicht transportieren.

Zudem hatte Arthur herausgefunden, dass Sender und Empfänger identisch sein mussten, genauer gesagt, es musste sich um zwei Ausgaben derselben Person handeln, die sich nur durch die zwischen Empfangen und Senden vergangene Zeit unterschieden.

Erschwerend hinzu kam, dass dasselbe auch für die Computer von Sender und Empfänger galt. Auch sie mussten identisch sein. Das war eine ziemlich einschneidende Bedingung, denn welcher Computer wird schon über zwanzig Jahre lang mitgeschleppt?

Nun, Du weisst, dass wir das mit unserem allerersten Mac, der kleinen Kiste mit dem praktischen Handgriff oben, getan haben. Den haben wir 1987 gekauft, und in Deiner Gegenwart im Jahre 2008, also einundzwanzig Jahre später, stand er aus sentimentalen Nostalgiegründen immer noch in einer Ecke bei uns rum. Weil es zur Geschichte gehört, kann ich Dir ausnahmsweise ein privates Detail verraten: Auch jenen iMac mit der Halbkugel und dem schwenkbaren Flachbildschirm, mit dem wir länger gearbeitet haben als mit irgendeinem Vorläufermodell, habe ich aus ähnlichen Gründen aufbewahrt — also jenes Modell, auf dem Du gerade meine Botschaft aus der Zukunft liest.

Das erzählte ich natürlich auch Arthur. Daraufhin wurde er ganz aufgeregt. Etwas verschämt gestand er mir, seine Berechnungen hätten etwas ergeben, dass er als kühler Rationalist zunächst gar nicht hätte glauben wollen: Eine Bedingung für das Funktionieren der E-Mails aus der Zukunft sei es nämlich, dass es zwischen Besitzer und Computer mehr gäbe als eine reine Arbeitsbeziehung. Es brauche vielmehr so etwas wie eine positive Gefühlsbeziehung — und die sei bei Mac-Besitzern, die ja nun bekanntlich weniger Kunden und mehr Fans waren und sind, einfach mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit zu finden als bei jenen, die mit simplen PC’s arbeiteten.

Dann schwieg Arthur eine lange Weile, um mich schliesslich ganz direkt zu fragen, ob ich bereit wäre, mich als Testperson für den Quanten-Transport über die Zeit zur Verfügung zu stellen. Es sei ihm schon eine ganze Weile klar, dass im jetzigen Stadium der Erforschung und Erprobung nicht mehr als eine Testperson sinnvoll wäre. Zum einen, weil die erforderlichen Ressourcen beschränkt waren, zum anderen aber, um die Gefahr von Zeit-Paradoxa zu reduzieren.

Damit kennen wir uns dank intensiver Beschäftigung mit Science Fiction aus, also nur zur Erinnerung: Ein Zeit-Paradox meint die Gefahr, dass sich die Vergangenheit, in die ich eine Botschaft schicke, dadurch so verändert, dass sie andere Abzweigungen nimmt und damit zu einer anderen Zukunft führt als die uns bekannte. Wenn ich Dir, nur so als Beispiel, die aktuellen Aktienkurse mitteilen würde, und wenn diese Information in falsche Hände geriete, könnte das ganze Finanzsystem durcheinander kommen.

Oder, um ein Beispiel zu nennen, das Arthur anführte: Wenn die Vergangenheit wüsste, dass in Zukunft eine bestimmte technische Neuerung existieren wird, könnte sie weniger eigene Energien in diese Erfindung investieren, was dazu führen könnte, dass sie gar nie erfunden wird — und schon haben wir eine andere Zukunft. Im Extremfall könnte eine Botschaft zurück in die Vergangenheit dazu führen, dass der Sender in der Zukunft wegen anders gewählter Abzweigungen aufhört zu existieren.

All diese Gefahren von Zeit-Paradoxa werden natürlich gewaltig reduziert, wenn man nur einen Informationskanal öffnet statt gleich Dutzende davon. Allerdings gebietet die Vorsicht auch dann noch beträchtliche inhaltliche Einschränkungen, wie mir Arthur erklärte. So sei es unbedingt zu vermeiden, konkrete Zahlen, Fakten oder Namen mitzuteilen. Das allein würde ihn für die Rolle der Testperson ungeeignet machen. Er sei so sehr an konkreten Fakten interessiert, dass es ihn — in seiner vergangenen Ausgabe — völlig verrückt machen würde, ausgerechnet darüber nichts erfahren zu können.

Dagegen sei ich mit meiner Vorliebe für die abstrakten Fliessmuster der persönlichen und der kulturellen Evolution weit eher geeignet, würde ich doch in der Vergangenheit aus der Zukunft genau das erfahren, was mich am meisten interessiere.

Allerdings, und jetzt sah er mich mit offenkundigen Zweifeln an, gäbe es da noch ein Problem. Es dürfte, so erklärte er mir, für die Testperson am vergangenen Ende der Leitung eine ernsthafte Belastung werden, dass sie nichts über ihre persönliche Zukunft erfahren dürfe. Das nämlich sei wegen der Gefahr von Zeit-Paradoxa unbedingt zu vermeiden. Würde die vergangene Ausgabe erfahren, wie ihre konkrete Zukunft aussähe, liesse es sich kaum vermeiden, dass sie, bewusst oder unbewusst, zu Handlungsmustern greift, die eine bestimmte Zukunft verstärken oder vermeiden, und, schwups, schon wäre die Zukunft eine andere, und die Leitung damit zusammen gebrochen. Umgekehrt sei es für die Testperson in der Vergangenheit sicher alle andere als leicht, zu wissen, dass sie eine Zukunft hat, nicht aber, wie die konkret aussieht. Hier sähe er die grösste Schwachstelle seines Modells, weil es sich schlicht nicht voraussehen lasse, wie ein Mensch diese bis anhin völlig unbekannte Situation psychisch verkraften würde.

Ich muss in diesem Moment ziemlich unübersehbar gegrinst haben, denn plötzlich griff er sich an den Kopf und sagte: ªIch Hornochse! Du weisst natürlich, dass es geht, weil Du es selber schon erlebt hast...´

Ich konnte ihm nur zustimmen. Ich hatte ja von meiner Schwester in der Zeit die E-Mails aus der Zukunft bekommen, und ich hatte ja während fast einundzwanzig Jahren die Erfahrung gemacht, dass ich damit ganz gut leben konnte, auch mit den blinden Flecken, die über meiner persönlichen Zukunft lagen. Immerhin hatte ich dabei einen entscheidenden Bonus: Ich wusste, dass ich auch noch einundzwanzig Jahre nach dem Erhalt der Botschaften am Leben sein würde, und zwar bei offenkundig guter geistiger Gesundheit. Das war zwar damals schon statistisch recht wahrscheinlich, aber zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewissheit liegt eben doch ein himmelweiter Unterschied.

Zu jenem Zeitpunkt, als ich auf Arthur traf, wusste ich also bereits, dass er mich als Testperson auswählen würde, und ich wusste auch, dass ich mit der damit verbundenen persönlichen Ungewissheit würde leben können. Und mir war klar, dass ich Arthur davon nichts erzählen durfte, wenn ich die Geschichte nicht gefährden wollte, er musste schon selber darauf kommen. Erst dann konnte ich ihm gestehen, dass es in den E-Mails meiner zukünftigen Doppelgängerin eine Ausnahme von der Regel der Vermeidung konkreter Informationen gab, nämlich seine, Arthurs, Geschichte. Meine zukünftige Ausgabe hatte, ganz zu Recht übrigens, angenommen, ihre Vorgängerin würde das Ganze nie akzeptieren, wenn sie nicht eine glaubwürdige Vorgeschichte erzähle. Deshalb wusste ich, als ich Arthur traf, was mich erwartete, wenigstens in groben Zügen.

So wurde ich also zu Arthurs Testperson. Er reaktivierte meinen Uralt-Mac (Dein aktuelles Modell also), was erstaunlich einfach ging, zumal das Ding nicht an das Netz angeschlossen werden musste, was etwas schwieriger geworden wäre. Arthur fummelte etwas an der Hardware herum, machte einige Anpassungen an der Software und schloss schliesslich ein kleines Kästchen an, das nicht grösser war als Eure damaligen USB-Sticks. Das sollte es mir erlauben, Dir ein kürzeres oder längeres Mail im reinen Textformat zu schicken, wann immer ich Lust und Zeit dazu habe. Überstrapazieren dürfe ich das Ding allerdings nicht, die darin enthaltenen Ressourcen seien beschränkt und würden selbst bei sparsamem Gebrauch kaum länger als ein Jahr ausreichen.

Und so habe ich vor einigen Minuten angefangen, dieses Mail an Dich zu schreiben. Wie mir Arthur erkläre, spielt es keine Rolle, wie lange ich schreibe: In jener Sekunde, in der ich die Betreff-Zeile eintippe, erscheint auf Deinem Bildschirm schon das ganze Mail, und Du sitzt in jenem Moment mit Sicherheit davor, ich meine natürlich einundzwanzig Jahre vor meiner Jetztzeit, ist manchmal immer noch etwas verwirrlich, das Ganze...

Arthur sitzt übrigens neben mir und beobachtet gespannt einige Monitore. Darauf sind die Daten von weltweit verbreiteten Messstationen abgebildet. Dabei handelt es sich um Computer, die nichts anderes tun, als pausenlos Zufallszahlen zu generieren. Manchmal jedoch ergeben sich Abweichungen von reinen Zufallsmustern, erzeugt von etwas, das wir heute ganz selbstverständlich als Bewusstseinsfelder bezeichnen. Du weißt, dass das schon zu Deiner Zeit mehr ist als Science Fiction, Einflüsse von kollektiven Bewusstseinsfeldern, etwa beim Attentat in New York am 11. September 2001, oder beim Tsunami Ende 2004, sind bereits nachgewiesen.

Mittlerweile sind die Messmethoden natürlich wesentlich verfeinert worden, so dass sich auch schwächere Bewusstseinsfelder, bzw. deren Wirkung auf die Zufallsgeneratoren, nachweisen lassen. Arthur hat vorhergesagt, dass in jenem Moment, in dem die Leitung über die Zeitbrücke hinweg frei geschaltet wird, die Wirkung auf Dein Bewusstseinsfeld so stark sein würde, dass sie mit dem verfeinerten Messinstrument nachweisbar sein müsste — und zwar auf beiden Seiten der Zeitbrücke. In Deiner Zeit konnte man das noch nicht messen, in meiner schon.

Und Arthur hat eben einen entsprechenden Ausschlag gesehen, stärker signifikant sogar noch als vorhergesagt. Darüber ist er glücklich, ist es doch für ihn der erste objektive Beweis dafür, dass die Sache geklappt hat. Klar, er hat meine Erinnerungen, doch auf eine einzige subjektive Wissensquelle zu vertrauen, fällt einem eingefleischten Skeptiker wie ihm schwer, und zudem habe ich ihn im Verdacht, noch einige Reste jener kulturellen DNA seines Heimatlandes mitzuschleppen, die der Zeugenaussage einer Frau nur halb so viel Wert beimessen wie jener eines Mannes...

Wie dem auch sei, Arthur glaubt jetzt an den Erfolg seiner Mission und hat sich gerade mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht verabschiedet.

Und auch für mich wird es Zeit, mit diesem ersten Mail zu einem Ende zu kommen. Schliesslich hast Du ja jetzt einiges zu verdauen. Du wirst es schaffen, schliesslich erinnere ich mich daran.

Ach ja, ehe ich es vergesse: Es versteht sich von selbst, dass diese Geschichte unter uns bleiben muss. Würdest Du anfangen herumzuerzählen, Du bekämest von Deiner eigenen zukünftigen Ausgabe E-Mails aus der Zukunft zugeschickt, würde man Dich in die Psychiatrie sperren. Oder, schlimmer noch, Dich als harmlose Esoterik-Spinnerin abstempeln.

Und das wollen wir doch vermeiden, denn Du hast noch was vor. Die Mails selber sollen ja nicht bei Dir bleiben, Du wirst, wenn Du ein paar davon gelesen hast, von selber auf die Idee kommen, sie jenen zugänglich zu machen, die etwas damit anfangen können — to whom it may concern. Du wirst bald von der Idee abkommen, dafür einen konventionellen Verlag zu suchen, die wüssten schlicht nicht, in welches Regal der Buchhandlung sie das Ding stellen sollten. Also wirst Du, wie es zu einem obskuren Stoff aus einer obskuren Quelle passt, einen eher obskuren Herausgeber finden, der bereit ist, meine Mails im Netz und in Buchform zu publizieren. Und der vor allem auch bereit ist zu akzeptieren, dass er nie erfahren wird, von wem die Dinger wirklich stammen.

Das hat zwar zur Folge, dass Du auf Tantiemen verzichten musst, aber, so viel kann ich verraten, das ist ein kleiner Verlust. Stell Dir dagegen vor, Du wärest als Quelle bekannt — Du könntest Dich vor Medienbelästigung nicht mehr retten. Und dann müsste die Öffentlichkeit die Geschichte womöglich noch glauben, was wir tunlichst vermeiden wollen, denn dafür ist sie schlicht noch nicht bereit. Es genügt absolut, wenn ein paar Menschen sich auf das Gedankenspiel einlassen, die von mir geschilderten Zukünfte könnten womöglich wirklich wahr sein. Denn das würde dazu führen, dass sie anfangen sich zu überlegen, was diese Zukünfte für sie selbst und für ihre Umgebung bedeuten. Und schon wäre ein Anfang dafür gemacht, dass das, was Eure Zeit als Potenziale und Chancen der Zukunft erst ahnt, zur von mir erlebten Wirklichkeit führen würde.

Genug der Möglichkeitsformen. Ich weiss ja, dass es so kommen wird. Du schreibst gerade an einem nicht ganz unbedeutenden Kapitel von Auto-Evolution mit. Darüber mehr im nächsten Mail.

Damit Du Deine Dir zugedachte Rolle spielen kannst, solltest Du die nächsten zwei Jahrzehnte gesund, wach und neugierig bleiben. Also halt die Ohren steif und lass es Dir gut gehen.

In diesem Sinne bis bald. Deine Schwester in der Zeit:

Xenia Futura

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Mit dem Schreib-Projekt "Auto-Evolution" greife ich nach fast zehn Jahren auf eine Form zurück, die sich damals in verschiedenen Temenfeldern bewährt hat: E-Mails aus der Zukunft von Xenia Futura.

Es geht dabei um die Schilderung von Zukunft im Plusquamperfekt, also die Beschreibung von Zukunft so, als ob sie schon geschehen wäre.

Absenderin ist Xenia Futura, "die Fremde, Unbekannte aus der Zukunft". Alles Weitere dazu erfahren Sie im Vorwort des Herausgebers und im nebenstehenden ersten E-Mail aus der Zukunft.

Das Projekt unterliegt selbst den Gesetzen der Auto-Evolution, das heisst, es entwickelt sich spontan und aus sich selbst heraus. Fest steht nur die gewählte Form, für den weiteren Fortgang dagegen gibt es keinen festen Plan.

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