FROM: Xenia Futura
TO: Xenia Präsens
DATE: 19.01.2029 20:07:05
SUBJECT: Evolutions-Steckbrief
Liebe Evolutionärin
Du ahnst nicht, was ich gerade auf dem uralten
Mac gespielt habe, auf dem ich bekanntlich die Mails an Dich schreibe.
Da war doch tatsächlich noch ein Spiel drauf, das zu Deiner
Zeit schon beinahe zwanzig Jahre alt war, jetzt also vierzig ist.
Es heisst "Darwins Dilemma", und sein Moto lautet "The
Solution is Evolution". Das Spiel ist einfach, es geht darum,
verschiedene Exemplare einer Gattung zusammen zu schieben, woraus
dann jeweils eine Gattung der höheren Art entsteht. So geht
das über zwei Dutzend Ebenen vom Einzeller bis zum Menschen,
und am Schluss, wenn aus den Affen der Mensch geworden ist, erklingt
eine Fanfare.
Damals haben wir das fleissig gespielt, doch
irgendwann passte das Spiel nicht mehr zum neuen Betriebssystem,
und so hätte ich es fast vergessen, bis ich es jetzt auf
der uralten Maschine wieder fand. Und eines ist klar: The Solution
ist tatsächlich Evolution. Oder, auf unser Thema bezogen:
Ohne allgemeine Akzeptanz von evolutionärem Denken gibt es
keine Auto-Evolution. Weshalb wir unbedingt mal angucken sollten,
welchen Stellenwert heute evolutionäres Denken im öffentlichen
Bewusstsein hat.
Nun, die Evolutions-Theorie hatte sich natürlich
schon lange vor Deiner Zeit als allgemein akzeptiertes Modell
zur Erklärung der Entstehung der biologischen Arten durchgesetzt,
jedenfalls in den aufgeklärteren Weltgegenden. Was keineswegs
so selbstverständlich war, wie es uns Spätgeborenen
erscheinen mag.
Als Charles Darwin seine Theorie publik machte,
meinte bekanntlich eine fromme Pfarrersgattin, Gott möge
geben, dass die Theorie falsch sei, doch wenn sie schon wahr wäre,
dann möge er bitte verhindern, dass das allgemein bekannt
würde. Hinter dieser Ablehnung steckte nicht nur ein gewisser
Ekel beim Gedanken, vom Affen abzustammen. Nein, die Evolutions-Theorie
stellte einige fundamentale Grundannahmen des bisherigen Weltbilds
auf den Kopf.
Dazu gehörte primär die Vorstellung,
alle biologischen Arten und überhaupt die ganze Welt seien
seit der Schöpfung so gewesen, wie wir sie vorfinden. In
diesem stabilen Weltbild hatte sich nie etwas verändert und
würde sich nie etwas verändern. Diese starre Sicht der
Dinge wurde von der Evolutions-Theorie gleichsam verflüssigt:
Jetzt wurden Wandel, Veränderung und Entwicklung zu normalen,
ja geradezu prägenden Elementen der Wirklichkeit.
Und das betraf nicht nur die Frage nach der
Herkunft, sondern auch jene nach der Zukunft. Wenn wir Menschen
das Ergebnis eines langen Evolutionsprozesses sind, und wenn absehbar
ist, dass dieser Prozess weiter geht, lässt sich die Vorstellung
von der Krone der Schöpfung, vom Menschen als nicht mehr
zu übertreffender Schöpfung, nicht länger halten.
Stattdessen werden wir zu Prototypen degradiert, denen noch viele
weitaus bessere Nachfolgemodelle folgen können.
Das ist für das menschliche Selbstbild
natürlich zunächst eine Kränkung. Und es ist nicht
die einzige, welche die Evolutions-Theorie bereithält. Nehmen
wir nur deren Vorstellung von Mutationen, die ja entscheidend
ist für die Herausbildung von Neuem. Mutationen aber sind
nichts anderes als Kopiefehler. Diese erweisen sich meistens als
schädlicher Schrott, doch in seltenen Fällen ist der
Fehler besser als das Original, so wie bei den Kopierfehlern in
mittelalterlichen Schreibstuben in seltenen Fällen auch mal
eine Formulierung herauskommen konnte, die besser war als die
ursprüngliche. Und doch, die Idee, unsere ganze Existenz
bloss einigen Kopierfehlern in unseren Genen zu verdanken, ist
für sensible Gemüter nicht sehr aufbauend.
Dazu kommt, dass der Selektionsprozess, in
dem sich Mutationen bewähren müssen, alles andere als
fein verläuft. Im Klartext: Wir verdanken unsere Existenz
unseren Vorfahren, die sich am rüpelhaftesten und rücksichtslosesten
gegen ihre Konkurrenz durchgeboxt haben. Auch das ist keine sehr
erhebende Vorstellung...
Und dennoch hat sich die Evolutions-Theorie
durchgesetzt, was bedeutende Konsequenzen für das menschliche
Selbst- und Weltbild hatte. Immerhin geht es dabei um Antworten
auf die drei tiefsten menschlichen Fragestellungen: Woher kommen
wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?
Solche Antworten sind, was wir schon zu Deiner
Zeit wussten, was aber heut zu Tage Allgemeingut geworden ist,
nichts anderes als Meme, geistige Einheiten und Informationsträger
wie die Gene, und wie diese stehen Meme im Wettbewerb miteinander,
kämpfen ums Überleben und um Ausbreitung, können
sich anpassen und verändern, unterliegen also denselben evolutionären
Gesetzen von Mutation und Selektion wie biologische Arten.
So betrachtet ist natürlich auch die
Evolutions-Theorie ein Mem, und zwar ein äusserst erfolgreiches.
Es ist nicht nur das dominierende Erklärungsmodell für
die Entwicklung der biologischen Arten, es wurde längst auch
übertragen auf andere Bereiche und dort als Erklärungsmodell
für nützlich befunden.
Die Idee von den Memen etwa entstammt dem
Modell von der kulturellen Evolution, wonach sich auch menschliche
Kulturen und Gesellschaften in evolutionären Prozessen befinden.
Diese Idee wiederum lässt sich auch auf kleinere Einheiten
übertragen: Schon zu Deiner Zeit sprach man von der DNA einer
Firma oder einer Marke. Und von da an ist es nur noch ein kleiner
Schritt, das Evolutions-Modell auch auf die Entwicklung der individuellen
Persönlichkeit zu übertragen. Also auf Auto-Evolution.
Das Mem Evolution hat sich sicher zu einem
wesentlichen Teil deshalb durchgesetzt, weil es ein statisches
durch ein dynamisches Weltbild abgelöst hat. Das hatte die
Konsequenz, dass die Zukunft offener denn je wurde und
eine offene Zukunft ist die Voraussetzung für Hoffnung, für
Visionen, und damit für Fortschritt. Wenn alle davon ausgehen,
es ändere sich nie etwas, wird sich auch nie etwas verändern.
Erst die Evolution mit dem stetigen Wandel als Bedeutungskern
öffnet die Zukunft und schafft damit Raum auch für Verbesserungen.
Wie kommt es denn, dass trotz dieses Startvorteils
und trotz überzeugender Beweise das Mem Evolution sich noch
keineswegs vollständig durchgesetzt hatte? Immerhin sprach
man zu Deiner Zeit ja noch kaum von Auto-Evolution, hatte vielmehr
vage Bilder von "Selbst-Formung" im Kopf. Und genau
darin blitzte noch immer ein hartnäckiges Element der alten
Schöpfungs-Mythen auf: Selbst-Formung ist das Bild eines
kreativen Schöpfers, der aus einem Klumpen Lehm, ganz wie
im alten Testament, etwas nach seinem Bilde formt.
Dass in diesem Falle Schöpfer und Geformtes
identisch sind, was zu ungeahnten Konsequenzen führen muss,
lassen wir für den Moment beiseite, denn uns interessiert
vor allem das Mem im tiefen Urgrund: Die Idee, es gebe keine Schöpfung
ohne Schöpfer, weil es keine Wirkung ohne Ursache geben kann.
Diese Vorstellung ist so tief in unserem traditionellen Denken
verankert, dass wir meist gar nicht wissen, dass es sie gibt,
sondern sie als völlig normal und selbstverständlich
betrachten, als Ausdruck gesunden Menschenverstands gleichsam.
Übertragen auf die Evolution heisst das,
dass zwar allgemein akzeptiert wird, es gäbe evolutionäre
Prozesse und Regeln. Doch dann folgt unweigerlich die Frage: Wer
hat diese Prozesse angestossen und wer hat die Regeln dafür
formuliert? Schön äussert sich diese Haltung in der
Position der katholischen Kirche: Sie akzeptiert zwar die Evolutionstheorie,
beansprucht aber für die Antwort auf die Frage, wer dahinter
steht, nach wie vor ein Monopol.
Das ist schon mal ein gewaltiger Fortschritt.
Es ist noch nicht allzu lange her, als kirchliche Würdenträger
auf Grund intensiven Bibelstudiums den Tag der Schöpfung
präzise irgendwann zu einem Zeitpunkt rund 5000 Jahre vor
Christ Geburt errechneten, unter allgemeinem Beifall der Gelehrtenwelt.
Darüber sind die Kirchen mittlerweile grösserenteils
hinweg, wenngleich sich dieses Mem in etlichen fundamentalistischen
christlichen Gemeinschaften hartnäckig hält.
Noch viel hartnäckiger dagegen ist das
Mem, das ziemlich genau die Position des Vatikans ausdrückt:
Evolution ja, aber diese ist nicht zu erklären ohne einen
intelligenten Designer. Gerade zu Deiner Zeit tobte die Auseinandersetzung
um dieses Mem heftig. Dabei haben die glühenden Anhänger
der Evolutionstheorie leider übersehen, wie stark das menschliche
Grundbedürfnis nach Erklärungen im Sinne von Ursache
und Wirkung ist. Die Anhänger von Intelligentem Design einfach
als hoffnungslose Hinterwäldler abzutun, griff deshalb zu
kurz, weil viele durchaus vernünftige und rationale Menschen
zwar ohne weiteres die Evolutions-Theorie akzeptieren konnten,
aber nicht die bohrende Frage loswurden, was denn wohl dahinter
stecke, wer die Evolution in Gang gesetzt und ihre Gesetze erlassen
habe.
Ein Physiker kann die Frage ausblenden, was
vor dem Urknall war, und ein Biologe die Frage, was vor der Evolution
war. Die meisten Menschen können das nicht, weshalb ihnen
die Frage nach einem allfälligen intelligenten Designer ganz
normal vorkommt. Erst als diese Frage von der anderen Seite wirklich
ernst genommen wurde, konnte sich das Mem Evolution noch viel
breiter durchsetzen, als das zu Deiner Zeit der Fall war. Und
damit auch das Mem Auto-Evolution.
Nicht allzu lange nach dieser Deiner Zeit
übrigens war es, als ein kluger Kopf auf die Idee kam, die
gute alte Dialektik auch auf die Frage anzuwenden, ob die Evolution
nur mit oder auch ohne intelligenten Designer zu erklären
sei. Er schlug ein kühnes Gedankenexperiment vor: Nehmen
wir mal an, es gäbe einen intelligenten Designer. Oder, noch
besser, eine intelligente Designerin. Und nehmen wir, um der anderen
Seite entgegen zu kommen, an, diese intelligente Designerin sei
die Evolution selbst: Was können wir dann aus dem Design
auf die Designerin schliessen?
Dieser kluge Kopf, den ich Dir leider nicht
benennen kann, machte den Vorschlag, auf diese Weise eine Art
Steckbrief der Evolution zu erstellen, so wie fähige Profiler
in der Kriminologie aus den vorhandenen Tathinweisen ein Profil
des vermutlichen Täters erstellen. Er meinte, da wir über
die Intelligenz im Hintergrund der Evolution auf direktem Wege
ohnehin nichts erfahren könnten, sei dies die einzige Möglichkeit,
aus ihrem Werk Rückschlüsse auf sie zu ziehen.
Die Wurzeln dieses Denkmodells in der Kriminologie
befand unser kluger Kopf übrigens keineswegs als zufällig.
Schliesslich, so argumentierte er, besässe die Evolution
ganz offensichtlich keine Moral, sie lasse es zu, dass Millionen
von Individuen und ganze Arten heftig leiden müssen, sie
spiele ihr Spiel ganz ohne Rücksicht auf Verluste und vor
allem auf menschliche Wertvorstellungen. Sie sei also, wie so
viele Kriminelle, buchstäblich jenseits von Gut und Böse.
Wie dem auch sei. Unser kluger Kopf jedenfalls
formulierte einen Evolutions-Steckbrief, der heute weitgehend
akzeptiert wird und als Standard-Mem in Sachen Evolution gelten
kann. Seine wichtigsten Elemente sind:
1. Die Evolution ist eine Spielerin
Ein kriminologischer Profiler schliesst aus
den Taten auf die Antriebskräfte des Täters. Positiv
gesehen lassen sich aus einem schöpferischen Werk immer Rückschlüsse
auf die Person des dahinter stehenden kreativen Menschen ziehen,
was in der biblischen Schöpfungsgeschichte gipfelt: Und Gott
schuf den Menschen nach seinem Ebenbilde.
Folgen wir also menschlichem Ermessen, dann
gibt es für schöpferisches Tun zwei gegensätzliche
grundsätzliche Antriebskräfte: Wir tun etwas, weil wir
damit einen bestimmten Zweck verfolgen, einen bestimmten Nutzen
gewinnen wollen. Oder wir tun es völlig zweck- und nutzlos,
indem wir es als Spiel betreiben. Ein Spiel braucht weder Zweck
noch Nutzen, wenn wir wirklich spielen, sind wir deshalb selbstversunken,
gehen ganz im Spiel auf, ohne irgendeinen höheren Zweck im
Auge zu haben.
Wenn wir nun, Friedrich Schiller folgend,
nur da ganz Mensch sind, wo wir spielen, liegt der Verdacht nahe,
dasselbe gelte auch für die Evolution. Und tatsächlich
ist in ihrem Tun keinerlei höherer Zweck zu erkennen, was
nur bedeuten kann, dass ihre Antriebskräfte spielerischer
Natur sein müssen.
Zwar gibt es bis heute Menschen, die der fixen
Idee anhängen, der einzige Zweck der Evolution sei es gewesen,
den Menschen hervorzubringen. Bei nüchterner Betrachtung
zeigt diese Vorstellung alle Zeichen von Grössenwahn, denn
wäre dem so, so hätte es sich die Evolution auch wesentlich
einfacher machen können. Niemand würde es zweckgerichtetes
Handeln nennen, einen ganzen Kosmos zu basteln, nur um in einer
winzigen und unbedeutenden Ecke davon biologisches Leben zu schaffen,
und dieses Leben wiederum in Abertausende von Arten aufzufächern,
nur um einen einzelnen Entwicklungsstrang dann zum König
zu machen. All das wäre etwas gar viel Aufwand für einen
ziemlich bescheidenen Zweck.
Nein, es muss die pure Lust am Spiel gewesen
sein, die so bizarre Schöpfungen wie kosmische Nebel und
Schwarze Löcher, Breitmaulnashörner und Geburtshelferkröten,
Fasnachtsbräuche oder italienische Politik hervorgebracht
hat. Wir können uns die Evolution nicht anders vorstellen,
als völlig versunken in ihr eigenes Spiel. Die Evolution
muss eine Spielerin sein.
2. Die Evolution konzentriert sich auf das
Beobachten
Tief ins letzte Jahrhundert reichen die Wurzeln
eines Computerspiels, dessen Suchtpotenzial wir bekanntlich auch
kurzfristig verfallen sind: Sim City. Es geht darin um die Entwicklung,
also die Evolution einer simulierten Stadt von bescheidenen Anfängen
bis zur boomenden Metropole. Die Spielerin kann in der Rolle des
Bürgermeisters mit klugen Eingriffen diese Evolution verstärken
und beschleunigen, oder, wenn sie es dumm anstellt, zum Verdorren
bringen.
Neben diesem aktiven Spielmodus gibt es auch
einen passiven. Wir haben damals manchmal den Computer über
Nacht laufen lassen und am anderen Morgen beobachtet, was in der
so simulierten Zeit mit der Stadt geschehen war, wenn niemand
an den Stellschrauben wie Steuerquote oder Energieversorgung gedreht
hatte. Natürlich musste man das Spiel in Gang setzen und
einige Anfangsbedingungen festlegen, doch dann lief es von allein
und aus sich selbst heraus.
Diese Evolution aus sich selbst heraus, ohne
Eingriffe von aussen, hatte ihren besonderen Reiz, wobei sich
die Freude am Spiel auf die Rolle der Beobachterin konzentrierte.
In einer Gesellschaft, die ganz auf aktives Tun setzt und passives
Beobachten als Müssiggang verurteilt, erschliesst sich dieser
Reiz nicht jedem. Und doch existiert er.
Ihm ist ganz offensichtlich auch die Evolution
erlegen. So schwer es manchen zu glauben fällt, dass sich
die intelligente Designerin darauf beschränkt haben soll,
das Spiel der Evolution in Gang zu setzen und seine Regeln und
Anfangsbedingungen festzusetzen, um sich hernach ganz auf die
Rolle der Beobachterin zurückzuziehen, so schwer wiegen die
Belege für genau dieses Modell: Die Evolution hat ein Spielfeld
abgegrenzt, ein paar Regeln augestellt und ihre Spielfiguren auf
das Feld geschickt. Jetzt schaut sie einfach zu, was aus dem Spiel
wird.
3. Die Evolution setzt ganz auf das Prinzip
"Versuch und Irrtum"
In unseren menschlichen Idealvorstellungen
ist Kreativität ein zielgerichteter Prozess: Der Maler hat
ein Bild im Kopf und bringt dieses dann auf die Leinwand. Und,
um einen zu Deinen Zeiten modisch gewordenen Begriff zu verwenden:
Der Mensch als "Life Designer" entwickelt einen Lebensplan,
den er dann in die Tat umsetzt.
Doch das Leben hält sich bekanntlich
selten an Ideale. So manche kreative "Leistung" erscheint
bei näherer Betrachtung als pures Zufallsprodukt, und unser
Leben folgt weit öfter dem Prinzip von Versuch und Irrtum
als einem klaren Plan.
Dass auch die Evolution diesem Prinzip folgt,
zeigt sich in ihrer Geschichte: Millionen von Arten entstanden
als hoffnungsvoller Versuch, und verschwanden wieder, weil sie
sich als Irrtum erwiesen haben. Nicht im Moment ihrer Entstehung,
aber später, unter gewandelten Bedingungen. Denn das gehört
zu den anspruchsvollen Elementen des evolutionären Spiels:
Nichts kann sich seines Erfolgs auf Dauer sicher sein, nur wer
sich den ständig wandelnden Spielsituationen anpassen kann,
überlebt siehe Saurier.
Dieses Prinzip von Versuch und Irrtum mag
uns perfide, ja grausam erscheinen, doch es hat natürlich
auch eine Kehrseite: Wo Irrtum möglich ist, ist auch Erfolg
möglich. Zwar ist die Erfolgsquote der Evolution klein, von
tausend Mutationen erweist sich am Ende vielleicht eine als wirklich
Erfolg versprechend. Doch da der Evolution Spielmaterial in Fülle
zur Verfügung steht, reicht das. Wir müssen es wissen,
schliesslich sind wir Menschen ein solcher Erfolg, oder vielmehr
die Summe vieler kleiner solcher Erfolge. Jedenfalls für
den Moment...
4. Die Evolution ist konservativ und fortschrittlich
zugleich
Eines wissen wir von der Evolution genau:
Sie schreitet fort und fort. Damit ist sie gleichsam die Verkörperung
des Fortschritts, wenngleich nicht in unserem eingeschränkten
Sinne, der von Fortschritt nur dann spricht, wenn sich die Dinge
hin zum Besseren entwickeln. Die Evolution aber kennt kein besser
oder schlechter, ihr einziges Unterscheidungskriterium ist, ob
etwas überlebt oder nicht. Dabei begnügt sie sich jedoch
nicht mit den vorhandenen Spielfiguren, sie hat ihr Spiel vielmehr
so angelegt, dass immer wieder Neues entsteht, ja entstehen muss.
Anders als bei manchen Menschen, bei denen
nur das Neue zählt und das Alte gar nichts, setzt die Evolution
keineswegs nur auf Neues. Wenn sich etwas Bestehendes bewährt
hat, wird es weiter verwendet, bei Bedarf einfach in leicht geänderter
Form. Das Auge etwa bei Tieren hat die Evolution nur einmal "erfunden"
und dann überall "eingesetzt", wo es sinnvoll war.
Dafür sind die Beleg mittlerweile ziemlich unumstösslich,
wenngleich wir noch immer vieles nicht genau verstehen.
So finden wir in der Evolutionsgeschichte
tatsächlich beide Elemente, das beharrliche Festhalten am
einmal Bewährten ebenso wie den stetigen Drang, Neues auszuprobieren.
Die Evolution ist also wirklich konservativ und fortschrittlich
zugleich.
5. Die Evolution fürchtet sich vor Langeweile
Nichts fürchten die Zuschauer eines Spiels
mehr als Langeweile. Das gilt natürlich auch für die
Evolution als Beobachterin ihres eigenen Spiels. Wir können
daher davon ausgehen, dass sie, als sie dieses Spiel auf
welche Weise auch immer in Gang gesetzt und seine Regeln
festgelegt hat, Elemente eingebaut hat, die Langeweile verhindern.
Zwei dieser Elemente sind offenkundig:
Das erste besteht in einem Drang nach Vielfalt.
Dieser ist auf allen Ebenen der Evolution spürbar. Aus Urelementen
entstanden vielfältige Atome, die sich wiederum zu noch viel
vielfältigeren Molekülen verbanden. Aus einem einzigen
Einzeller entstand die heutige Vielfalt aus Millionen von Arten
des Lebens. Und aus einfachen Monokulturen in der Frühzeit
des Menschen wurde ein unüberschaubarer Kosmos unterschiedlichster
Lebensweisen.
Nicht genug damit: Auch innerhalb der Arten
ist der Drang zur Vielfalt nicht zu übersehen. Dass jeder
Mensch einen einigartigen Fingerabdruck produziert, ist ja nur
ein Symbol für die sonstige Unterschiedlichkeit der Menschen,
die zu einer ausgesprochenen Vielfalt von Persönlichkeiten
und Handlungsweisen führt. Und dieser Drang zur Individualisierung
und damit zur Vielfalt beschränkt sich keineswegs auf unsere
Art, schon einfache Lebewesen und sogar physikalische Phänomene
sind Zeugen dafür. Vielfalt ist also das erste Mittel der
Evolution gegen ihre eigene Langeweile.
Das zweite Mittel heisst Beschleunigung. Die
ersten Ebenen der Evolution, also etwa die kosmische, die physikalische
oder die geologische, zeigen noch Entwicklungsprozesse, die ausgesprochen
langsam ablaufen. Die biologische Evolution, also die Entwicklung
des Lebens und der Arten, verläuft, verglichen damit, schon
wesentlich schneller. Wir sprechen da nicht mehr von Milliarden
oder doch wenigstens hunderten von Millionen Jahren, sondern von
einigen wenigen Millionen Jahren, in denen sich zum Beispiel der
Mensch aus seinen Vorfahren heraus entwickelt hat.
Noch schneller allerdings verläuft die
Sache, seit es die kulturelle Evolution gibt. Jetzt wurden grosse
Evolutionsschritte auch in ein paar tausend Jahren möglich.
Und diese Beschleunigungstendenz ist noch nicht am Ende: Ein Mensch
unserer Generation etwa hat im Laufe seines Lebens so viele Veränderungen
in Technik und Kultur erlebt, wie sie sich noch vor kurzer Zeit
nicht einmal über viele Generationen hinweg ereigneten.
Ob sich diese Beschleunigung immer so fortsetzen
wird, wissen wir natürlich nicht. Es spricht aber einiges
dafür, dass die Evolution, nachdem sie einmal erkannt hat,
dass ein schnellerer Spielverlauf Langeweile wirkungsvoll vertreibt,
weiter auf diese Karte setzen wird.
6. Die Evolution ist gnadenlos und fürsorglich
Die Anhänger des Modells eines gütigen
Schöpfergottes hatten schon immer Mühe zu erklären,
warum ein solcher Gott all die Grausamkeiten auf dieser Welt einfach
zulässt. Wenn wir die Evolution selbst als intelligente Designerin
annehmen, haben wir dieses Problem nicht, denn Intelligenz hat
bekanntlich nicht automatisch mit Moral zu tun. Und tatsächlich
kennt die Evolution keine Moral im menschlichen Sinne.
Ihr Prinzip, dass rausfliegt, wer sich nicht
bewährt hat, ist gnadenlos. Ethische Massstäbe wie Gerechtigkeit
oder Fairness gibt es dabei nicht. Wenn ganze Arten deswegen ausgelöscht
werden, weil sich ein kosmischer Brocken zu nahe an die Erde verirrte
Pech gehabt. Wenn eine menschliche Gemeinschaft ins Visier
wahnsinnig gewordener Schlächter gerät Pech gehabt.
Wenn der beste Mensch auf Erden frühzeitig abtreten muss,
weil ihn seine Gene krebsanfällig gemacht haben Pech
gehabt. Das alles zu schlucken, ist nicht einfach, aber es führt
kein Weg daran vorbei: Das evolutionäre Spiel ist gnadenlos.
Und wieder gibt es auch die ganz andere Seite.
Die Evolution hat ihre Geschöpfe für das evolutionäre
Spiel ums Überleben auf eine Weise mit Gaben ausgestattet,
die geradezu fürsorglich wirkt. Auf einer ganz grundsätzlichen
Ebene ist das etwa an der Stärke des Willens zum Leben zu
sehen, der alle Lebewesen beseelt und antreibt.
Konzentrieren wir uns auf den Menschen, so
kommen neu Antriebskräfte dazu. Unsere Neugier etwa, unser
Sinn für Liebe, Schönheit oder Sinn, unsere geistigen
Fähigkeiten und viele mehr. Wenn wir einmal auf dem Spielfeld
sind, hält die Evolution keine schützende Hand über
uns, aber sie hat uns mit allem ausgestatte, was wir brauchen,
um uns dort eigenständig zu bewähren.
7. Die Evolution lässt jetzt auch Mitspieler
zu
Mit der "Erfindung" der kulturellen
Evolution, die ja nicht erst mit uns Menschen begann, aber durch
uns doch einen gewaltigen Schub erhalten lässt, ist im evolutionären
Prozess eine neue Ebene erreicht worden. Erstmals gibt es
halbwegs bewusste Geschöpfe, die zu Mitspielern werden.
Dabei haben sich diese bewussten Geschöpfe,
also wir, zunächst weitgehend auf dieselbe Rolle zu beschränken,
die auch die Evolution selbst einnimmt: jene der Beobachterin.
Wir können, vermutlich ein bisschen wie die Evolution selbst,
gucken, was da abläuft. Indem wir die evolutionären
Prozesse und deren Ergebnisse beobachten und zu verstehen versuchen,
kommen wir einer Antwort auf die uralte Frage nach unserer Herkunft
näher. Es ist daher kein Wunder, dass gerade in meiner jüngeren
Vergangenheit (also Deiner näheren Zukunft), das Studium
der Evolution zu einem immer beliebteren Thema im Bildungsbereich
und in den Medien geworden ist.
Anders als die Evolution selbst beschränkt
sich der Mensch allerdings längst nicht mehr auf die Rolle
des Beobachters evolutionärer Prozesse, vielmehr greift er
mehr und mehr aktiv in diese ein. Und zwar immer bewusster, sprich
zielgerichteter.
Dieser Drang, selber zum Schöpfer zu
werden, scheint Teil der evolutionären Ausstattung des Menschen
zu sein. Das hat, wie wir heute noch mehr wissen als zu Deiner
Zeit, seine durchaus problematischen Seiten, vor allem dort, wo
der Mensch direkt in die biologische Evolution eingreift, indem
er manche Arten ausrottet, andere genmanipuliert und neue gar
selber zu schaffen versucht. Das alles ist natürlich nicht
grundsätzlich falsch, doch wir sind erst dabei zu lernen,
dass dieses Tun sehr viel Fingerspitzengefühl, Sorgfalt,
Respekt vor der Komplexität des Lebens und damit ein gerütteltes
Mass an Bescheidenheit erfordert.
Zusätzlich gibt es viele Ebenen, auf
denen der Versuch, durch aktiv geförderte Entwicklung das
Leben und das Zusammenleben der Menschen besser und angenehmer
zu gestalten, mehr als sinnvoll sind. Hier sind wir Menschen als
die neuen Mitspieler der Evolution tatsächlich gefordert,
nicht nur zuzuschauen, sondern selber mitzuspielen.
Du siehst, in diesem Steckbrief der Evolution
steckt eine Menge Bedenkenswertes, das wir auf unser eigentliches
Thema, die Auto-Evolution, anwenden können. Und sei es "nur"
die Frage, ob wir unsere Energien als evolutionäre Mitspieler
wirklich vor allem in de biologische Ebene, also in unseren Körper,
stecken wollen, oder ob es nicht doch noch sinnvollere Anwendungsgebiete
für unseren Drang nach Auto-Evolution gäbe...
Jetzt aber tue ich auf unsere seit langem
bewährte Weise etwas für Körper, Geist und Seele
zugleich, indem ich eine Stunde wandern gehe.
Bis zum nächsten Mal grüsst Dich
herzlich:
Deine Xenia Futura
Dies
ist im Moment das letzte vorliegende E-Mail aus der Zukunft.
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