Gigerheimat: Worte
Auto-Evolution / Mail 04

 

FROM: Xenia Futura

TO: Xenia Präsens

DATE: 16.01.2029 15:32:04

SUBJECT: Zeitvorrat

Liebe Zeitgängerin

Schon zu Deiner Zeit hatten wir uns angewöhnt, ein neues Phänomen erst einmal grundsätzlich zu betrachten, das heisst, sein Verhältnis zu den Grunddimensionen der Realität, also Raum und Zeit, zu verstehen. Seitdem hat sich diese Tendenz bei mir noch verstärkt. Es liegt deshalb nahe, dieses Vorgehen auch beim Phänomen Auto-Evolution anzuwenden.

Mit Raum hat Auto-Evolution insofern zu tun, als es für diese Tätigkeit unabdingbar ist, am richtigen Ort geboren worden zu sein. Im Klartext: an einem Ort mit privilegierten ökonomischen Verhältnissen. Oder, wie Bert Brecht es vielleicht heute formulieren würde: Erst kommt das Fressen, dann die Auto-Evolution.

Mitten in den Elendsvierteln der Grossstädte der Dritten Welt ist Auto-Evolution denn auch jetzt noch kein Thema. Allerdings sind in den beiden letzten Jahrzehnten die Mittelschichten in den von Euch noch so genannten Schwellenländern, aber auch in manchen Entwicklungsländern, stark gewachsen. Und natürlich haben diese Menschen zunächst einmal die Früchte ihres sozialen Aufstiegs in Form von materiellen Gütern genossen, so wie dies bereits in unseren Breitengraden vor einigen Jahrzehnten beobachtet werden konnte.

Interessanterweise scheint es jedoch in den Ländern mit neuem Wohlstand weniger lang zu dauern als bei uns, bis diese Entwicklung Sättigungstendenzen zeigt. Bis wir in Europa gemerkt haben, dass Konsum nicht glücklich macht, um es mal etwas salopp zu formulieren, hat es lange gedauert. Die neuen Mittelschichten in Asien oder Südamerika stellen sich schneller die Frage, ob das im Leben schon alles gewesen sei, ob es im Leben wirklich nur darum gehe, möglichst viel zu konsumieren.

Diese Frage wiederum ist der Ausgangspunkt jeder bewussten Auto-Evolution. Und so kommt es, dass Auto-Evolution nicht nur in Europa oder Nordamerika zum Thema geworden ist, sondern auch in den anderen erwähnten Weltgegenden, wenngleich dort noch etwas schüchterner. Ob sich ein bestimmter sozialer Raum für Auto-Evolution eignet, ist also weniger zu einer Frage der Geografie geworden als vielmehr zu einer Frage des sozialen Status, vor allem des Bildungsstatus. Auto-Evolution ist nun mal ohne ein Minimum an Bildung kaum denkbar.

Noch dringender aber braucht Auto-Evolution Zeit. Evolutionäre Prozesse, gerade auch persönliche, spielen sich selten blitzartig und über Nacht ab, sie gelingen vielmehr nur, wenn ihnen genügend Entwicklungs- und Reifungszeit zur Verfügung steht. Auto-Evolution braucht einen ausreichenden Zeitvorrat. Und dafür stehen die Zeichen mehr denn je günstig, aus drei Gründen.

Der erste hat mit Zahlenmagie zu tun. Jeder vernünftige Mensch weiss natürlich, dass Kalender willkürlich sind, dass also ein "Ereignis" wie ein Jahrhundert- oder gar Jahrtausendwechsel eine reine Kopfgeburt ist, die keinerlei Entsprechung in der realen Welt hat. Und doch entwickelt diese Kopfgeburt eine eigene Realität, die uns durchaus prägt.

Weisst Du noch, dass wir am Ende des 20. Jahrhunderts vorausgesagt haben, dass mit dem Jahrhundertwechsel der Zukunftshorizont offener und weiter werden würde? In einem Jahr wie 1999 hatte man doch das Gefühl, jeden Moment mit dem Kopf an der Zeitdecke anzustossen, während mit dem Wechsel zu einer Zwei am Anfang sich ganze neue Zeiträume öffnen würden.

Das war, wie wir heute wissen, keineswegs falsch. Dumm war nur, dass einiges dazwischen kam. Das Ende der New Economy und der elfte September haben das öffentliche Bewusstsein so sehr in Beschlag genommen, dass kaum jemand Zeit und Musse hatte, sich auf den Umstand zu besinnen, dass wir tatsächlich in einem neuen Jahrhundert, ja Jahrtausend angekommen waren. Es hätte zwar den weit offenen Zeithorizont gegeben, aber niemand nahm ihn wahr.

Dieser Schockzustand begann in Deiner Gegenwart gerade mal etwas abzukühlen. Heute, da wir bald schon wieder das erste Drittel dieses Jahrhunderts hinter und haben, sind wir endgültig darin angekommen. Und das bedeutet, dass wir uns nach vorne, in Richtung Zukunft, orientieren, weshalb die Frage, wie wir diese Zukunft gestalten wollen, präsenter ist denn je, und zwar auf der persönlichen Ebene ebenso wie auf der gemeinschaftlichen. Diese Überzeugung, die vor uns liegende Zukunft sei offen und damit gestaltbar, ist eine zentrale Ursache für das Blühen und Gedeihen des Themas Auto-Evolution.

Ein zweiter Grund dafür ist wesentlich handfester: wachsende Zeitvorräte durch steigende Lebenserwartung. Deine Zeit hat gerade begonnen zu begreifen, dass das, was man so schön distanzierend den "demografischen Faktor" nennt, keine abstrakte Angelegenheit für die Statistik-Bücher ist, sondern ganz direkt das eigene persönliche Leben betrifft. Denn ein langes Leben stellt andere Anforderungen an die Lebensgestaltung als ein kurzes.

Wer, wie es lange Zeit in der Geschichte der Menschheit der Fall war, davon auszugehen hat, dass bald nach dem dreissigsten Geburtstag ohnehin Schluss ist, wird sich kaum gross Gedanken über seine persönliche Entwicklung machen. Und wer nach einem harten, aber stabilen Arbeitsleben bestenfalls die Aussicht auf zwei oder drei Jährchen des Ruhestands hat, ebenso wenig. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts aber war genau das für die meisten Menschen die herrschende Realität.

Wie viel sich in dieser Beziehung seitdem verändert hat, brauche ich Dir nicht zu erklären. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist enorm gestiegen — eine Tendenz übrigens, die sich in der Zwischenzeit fast zwangsläufig verflacht hat — und das hat die Zukunftsperspektive der Menschen verändert. Sie verfügen über einen wesentlich grösseren Zeitvorrat als je zuvor.

Das ist, wie fast immer, eine doppelgesichtige Sache. Auf der einen Seite ist es wunderbar, dass wir mehr Lebenszeit zur Verfügung haben, auf der anderen schafft das aber auch die Verpflichtung, diese Zeit zu füllen, also uns der grösseren Zeitvorräte durch deren sinnvolle Nutzung würdig zu erweisen.

Deine Zeit ist diesbezüglich noch schwer am Rumprobieren. Kein Wunder, die Situation ist neu, und es gibt in der Geschichte keine vergleichbare, was bedeutet, dass auch keine Vorbilder zur Verfügung stehen. Unter diesen Umständen tun ganze Kulturen und Gesellschaften das, was auch der einzelne Mensch im Jugendstadium tut: alles Gebotene ausprobieren, um herauszufinden, was zu einem passt und was einem gut tut.

Dafür hat unsere Gesellschaft in der Zwischenzeit viel Zeit gehabt. Herausgekommen ist, wen wundert’s, keine Einheitslösung, gerade in der dritten Lebensphase soll und darf jede und jeder nach der eigenen Facon selig werden. Und doch wächst die Schar jener Menschen in reiferen Jahren, die es für sinnvoller und erfüllender halten, die verbleibende Zeit mit der Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit zu verbringen, als die eigene Jugend nachholen oder künstlich verlängern zu wollen.

Das hat dazu geführt, dass Auto-Evolution zunächst tatsächlich von Menschen über fünfzig zum Thema gemacht wurde. Das lag auch an ihrer Vorgeschichte. Anders als noch die Generation vor ihnen bestand ihr Berufsleben nicht darin, etwas einmal Gelerntes dann für die nächsten Jahrzehnte anzuwenden, sondern im stetigen Erlernen neuer Fähigkeiten und Techniken, im häufigen Wechsel von Arbeitgeber und Beruf. Sie mussten ständig dazu lernen, wenn sie beruflich überleben wollten, denn ohne diese permanenten Veränderungen ging gar nichts mehr. So wurde für sie der Wandel zum Normalfall, und vor diesem Hintergrund wird auch der Gedanke der Auto-Evolution bis ins hohe Alter zur Normalität.

Ein dritter Grund für die Karriere von Auto-Evolution liegt in der zunehmenden Bedeutung des Themas Nachhaltigkeit. Wie wir schon zu Deiner Zeit richtig vermuteten, hat sich dieses Thema als Dauerbrenner entpuppt und nicht als Strohfeuer. Um wie viel Grad die durchschnittliche Jahrestemperatur in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen ist, kann ich Dir leider nicht sagen, aber es ist kein Geheimnis, wenn ich Dir verrate, dass das Thema Klimawandel und wie dessen Folgen zu mildern sind, nicht von der Tagesordnung verschwunden ist, weshalb alles, was mit nachhaltigem Denken und Handeln zu tun hat, hoch im Kurs steht.

Nun hat dieser ominöse Begriff ja bekanntlich zwei Bedeutungen. Nachhaltig meint zunächst einfach mal lang anhaltend, und erst dann "fürsorglich" oder "bewahrend". Und genau das hat eine entscheidende Rolle gespielt: Erst durch die Diskussionen rund um Nachhaltigkeit hat die Menschheit gelernt, wirklich längerfristig zu denken. Und das war ein grosser Schritt für sie.

Du erinnerst Dich an die Zeiten, in denen wir in Zukunftsforschung machten: Zwei, drei, allerhöchstens fünf Jahre voraus wollten damals die Kunden einen Blick in die Zukunft werfen. Alles, was darüber hinaus ging, interessierte buchstäblich kein Schwein. Erst der Klimawandel hat uns allmählich gelehrt, längere Zeiträume ins Auge zu fassen und uns wirklich ernsthaft damit zu beschäftigen. Das hat im kollektiven Bewusstsein den Zeithorizont beträchtlich erweitert.

Und das färbte natürlich auch auf die Individuen ab. Dieses längerfristige Denken wurde auch im persönlichen Leben üblich, was zusammen mit der höheren Lebenserwartung zu einem Zeitvorrat führte, der gefühlt wesentlich grösser war als je zuvor. Und da nur der sich ernsthaft auf Auto-Evolution einlässt, der das Gefühl hat, ausreichende Zeitvorräte zu besitzen, ist Auto-Evolution tatsächlich auch ein Kind von Nachhaltigkeit.

Als solches hat es eine interessante Mitgift mitbekommen: Beim nachhaltigen Handeln geht es ja bekanntlich darum, das kostbare Erbe unserer Lebensgrundlagen unversehrt an die nächsten Generationen weiter zu reichen. Insofern ist Nachhaltigkeit ein konservatives Anliegen, es geht um die Bewahrung von Bewahrenswertem. Und genau das ist auch ein wichtiges Element von Auto-Evolution. Sich selbst zu entwickeln heisst nicht, sich ständig neu zu erfinden, nur um des Wandels willen, sondern auch, sich selbst treu zu bleiben, also den wichtigen eigenen Kern auch in den gewandelten Versionen von sich selbst zu bewahren.

Über die schwierige Balance zwischen Bewahren und Wandeln als Herausforderung von Auto-Evolution schreibe ich vielleicht ein anderes Mal. Für den Moment möchte ich noch auf einen anderen Aspekt im Zusammenhang mit Auto-Evolution und Zeit hinweisen. Irgendwo auf einer alten Festplatte habe ich nämlich Aufzeichnungen über eine kleine Studie gefunden, die auch in Deiner Gegenwart schon einige Zeit zurück lag. Ihr Thema, oder besser ihr Ergebnis, war etwas, das wir damals "Fliesszeit" nannten.

Es ging, wie Du Dich sicher erinnerst, in dieser kleinen Studie um die Frage, in welcher Zeit die Menschen eigentlich primär leben, also ob in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder in der Zukunft — und wie sich dieses Bewusstsein verändert. Heraus kam das Prinzip der Fliesszeit, deren Merkmal es ist, dass die Grenzen zwischen diesen Zeitformen verschwinden. Man lebt nicht mehr ausschliesslich in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern fühlt sich mitten im Zeitstrom. Im Zentrum steht das bewusste und intensive Erleben der Gegenwart, doch auch Vergangenheit und Zukunft sind dabei ständig präsent.

Zu Deiner Zeit war es noch eine Vorhut, die dieses Zeitempfinden erlebte, wenngleich mit klar wachsender Tendenz. Dieser Trend hat sich fortgesetzt. Auch jetzt noch gibt es natürlich reichlich Leute, die weitgehend in der Vergangenheit leben oder die Gegenwart vor lauter Zukunfts-Ängsten und -Hoffnungen glatt vergessen, doch das dominante Zeitgefühl ist jenes der Fliesszeit geworden. Wir leben mitten in der Gegenwart, doch wir sind uns dabei auch ständig bewusst, dass es sich dabei nur um eine winzige Momentaufnahme aus dem Strom der Zeit handelt, dass wir immer auch von der Vergangenheit geschoben und von der Zukunft angezogen werden.

Nur mit dieser Auffassung von Zeit, nur mit diesem Zeitgefühl lässt sich wirklich erfassen und verstehen, worum es bei der Evolution im Allgemeinen geht. Und damit auch mit der Auto-Evolution im Besonderen. Das Konzept der Fliesszeit ist die Voraussetzung für wirklich evolutionäres Denken, und ohne dieses hätte die Idee der Auto-Evolution keine Chance gehabt.

Darüber, wie wir heute evolutionär denken, berichte ich Dir das nächste Mal. Jetzt mache ich erst einmal das, was die Evolution für alle Lebewesen vorgesehen hat: etwas essen.

Auch Dir wünsche ich bei nächster Gelegenheit guten Appetit und auch sonst alles Gute:

Deine Xenia Futura

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Mit dem Schreib-Projekt "Auto-Evolution" greife ich nach fast zehn Jahren auf eine Form zurück, die sich damals in verschiedenen Temenfeldern bewährt hat: E-Mails aus der Zukunft von Xenia Futura.

Es geht dabei um die Schilderung von Zukunft im Plusquamperfekt, also die Beschreibung von Zukunft so, als ob sie schon geschehen wäre.

Absenderin ist Xenia Futura, "die Fremde, Unbekannte aus der Zukunft". Alles Weitere dazu erfahren Sie im Vorwort des Herausgebers und im ersten E-Mail aus der Zukunft.

Das Projekt unterliegt selbst den Gesetzen der Auto-Evolution, das heisst, es entwickelt sich spontan und aus sich selbst heraus. Fest steht nur die gewählte Form, für den weiteren Fortgang dagegen gibt es keinen festen Plan.

Sie können den Fortgang des Projekts an dieser Stelle verfolgen. Jedes neu eingetroffene E-Mail aus der Zukunft wird hier sofort zugänglich gemacht.

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