FROM: Xenia Futura
TO: Xenia Präsens
DATE: 15.01.2029 14:28:03
SUBJECT: Vor-Laufen
Liebe Vorläuferin
Wie angekündigt werde ich Dir in diesem
Mail meine Gedanken dazu mitteilen, warum mich der Begriff der
Vorläuferin bis heute so fasziniert. Passend zum Thema habe
ich darüber auf einem schöpferischen Spaziergang nachgedacht,
wobei mir noch immer nicht ganz klar ist, wie weit es eigentlich
zu unserem Generalthema Auto-Evolution passt.
Doch daran habe ich mich bereits gewöhnt:
Wie damals bei unserem weggelegten Projekt über Auto-Evolution
gibt es für meine Mails keinen festen Plan, keine Themenliste,
die ich einfach abhaken kann. Vielmehr scheint sich das Projekt
spontan aus sich selbst heraus zu schöpfen, was bei unserem
Thema kaum erstaunt. Mir (und damit Dir) bleibt nur, sich von
dieser Welle tragen zu lassen. Es wäre gleich bedeutend mit
Untergehen, wollten wir uns gegen sie stemmen.
Was mir als erstes wieder auffiel: Es geht
bei der "Vorläuferin" um "laufen", also
um eine Bewegung auf den eigenen Füssen. Dabei gibt es eine
interessante Differenz: Der Vorgänger ist nicht dasselbe
wie der Vorläufer. Ersterer ist der vorherige Ausfüller
einer festgeschriebenen Rolle (der Vorgänger im Amt beispielsweise),
entsprechend tritt der Nachfolger in die Fussstapfen seines Vorgängers.
Anders der Vorläufer: Dieser erkundigt Neuland, wo es noch
keine Fussstapfen gibt. Vielmehr legt der Vorläufer selbst
erste Wegspuren, aus denen sich im Laufe der Zeit immer breitere
Verkehrswege bis hin zu Autobahnen ergeben, über die dann
der Mainstream brausen kann.
Der Vorläufer aber geht zu Fuss, und
da sich in unbekanntem Gelände kein allzu schnelles Tempo
empfiehlt, können wir davon ausgehen, dass der Vorläufer
nicht im strengen Sinne von "laufen" trabt oder gar
rennt, sondern ganz einfach geht wie es ja auch unser heimatliches
Idiom nahe legt, in dem "laufen" ganz einfach "gehen"
meint.
Der Unterschied ist nicht ganz unerheblich.
Du weisst, dass wir ganz früher die Sache mit dem Joggen
auch einmal ausprobiert haben, um dann bald wieder zum normalen
Gehen zu wechseln. Das lag weniger daran, dass Joggen für
die Gelenke nicht eben gesund ist, sondern mehr an der fehlenden
Wahrnehmbarkeit der Umwelt. Wer rennt, sieht nicht mehr viel.
Beim Gehen jedoch lässt sich die Umgebung
mit allen Sinnen beinahe so intensiv wahrnehmen
wie beim Stehen, und im Gegensatz zu diesem wird einem erst noch
Abwechslung geboten. Und genau das, nämlich intensiv wahrzunehmen,
was einem am Wegesrand geboten wird, war schon immer ein wesentlicher
Teil des Reizes, den das Gehen auf uns ausgeübt hat. Ja,
bei genauerer Betrachtung besteht dieser Reiz genau aus der Mischung
zwischen aktiver eigener, selbst gesteuerter und selbst befeuerter
Vorwärtsbewegung, und passiver Betrachtung der uns dabei
zufällig zufallenden Umgebung.
Was mich wiederum ein wunderbares Gleichnis
für Auto-Evolution deucht. Denn auch die ist eine solche
Mischung. Einen Teil bewegen wir selber, ein anderer fällt
uns zu. Zu glauben, unsere eigene Entwicklung läge vollständig
in unserer Hand und in unserer Macht, wäre nicht nur illusorisch,
sondern überheblich. Andererseits wäre es mutlos und
feige, unseren eigenen Füssen nichts zuzutrauen. Sie tragen
weit nur eben nicht überall hin.
Doch zurück zu den realen Füssen
auf realem Boden. Eine uralte Geschichte, fürwahr. Schliesslich
waren die Menschen während des überwiegenden Teils ihrer
Geschichte ausschliesslich Fussgänger. Und zwar Geher, nicht
Läufer. Sicher kam es vor, dass man in der Steinzeit mal
rennen musste, sei es hinter einem flüchtigen Wild her oder
vor einem wütenden Säbelzahntiger weg. Doch ich kann
mir kaum vorstellen, dass unsere Vorfahren, die Nomaden, ihre
Streifzüge normalerweise rennend absolvierten. Vielmehr dürfte
mehr oder weniger zügiges Gehen die normale Art der Fortbewegung
gewesen sein.
Dieses Erbe steckt tief in unseren Knochen.
Allerdings wurde es in den letzten Jahrzehnten überlagert
von einem anderen Erbe, nämlich unserem Drang nach Bequemlichkeit.
Du erinnerst Dich sicher an unsere Beobachtungen auf Kreta: Ein
Volk, das bis vor ganz kurzer Zeit nur das Gehen oder bestenfalls
mal einen Eselsritt kannte, weigert sich, auch nur einen überflüssigen
Schritt zu gehen und parkiert deshalb seine Autos immer nur direkt
vor dem Laden, in dem man einkaufen will, selbst auf die Gefahr
hin, dass dadurch die ganze Strasse blockiert wird. Eine Haltung,
die sich natürlich keineswegs auf Kreta beschränkte...
Es dürfte Dich freuen zu hören,
dass die sich schon zu Deiner Zeit abzeichnende Renaissance des
Gehens weiter gegangen ist. Auf den eigenen Füssen zu gehen
ist mehr denn je in. Rückblickend betrachtet gab es für
diese Aufwertung des Gehens drei gute Gründe.
Zunächst die immer noch wachsende Bedeutung
von Gesundheit. Du weisst natürlich, dass wir uns schon lange
darüber gewundert haben, warum viele Leute äusserst
aufwändige und schweisstreibende Sportarten betrieben, um
gesund zu bleiben, wo doch längst bekannt und nachgewiesen
war, dass es dafür nichts Einfacheres und Besseres gibt als
täglich eine halbe Stunde zügig zu gehen. Keine andere
Form der körperlichen Bewegung weist ein so günstiges
Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag auf.
Diese Erkenntnis hat sich in den letzten zwei
Jahrzehnten deutlich ausgebreitet. Und es gibt immer mehr Menschen,
die Gesundheitsförderung als Teil von Auto-Evolution auch
als ökonomisches Spiel begreifen, in dem möglichst einfach
möglichst viel erreicht werden soll. Es ist deshalb nicht
verwunderlich, dass Gehen in allen Variationen blüht, als
Wandern und Bergwandern, barfuss oder auf Schneeschuhen, aber
auch als Schlendern, Spazieren und Flanieren. Einige Leute rennen
immer noch hechelnd in der Gegend herum, was niemanden stört,
doch die Tendenz geht eindeutig zum normalen Gehen als Quelle
von Gesundheit.
Ein zweiter Grund für dieses Aufblühen
des Gehens liegt natürlich in der Diskussion um einen nachhaltigen
Lebensstil. Diese Diskussion ist in den letzten zwanzig Jahren
keineswegs abgeflaut, sie hat sich im Gegenteil verstärkt.
Ich werde sicher auch dazu mal ein Mail schreiben. Für den
Moment genügt der Hinweis darauf, dass diese Diskussion wegen
des Klimawandels immer ernster wurde. Das hatte zur Folge, dass
mehr und mehr Menschen erkannten, dass ein Lebensstil, der sich
an Gesundheit und Nachhaltigkeit ausrichtet, sich nicht darin
erschöpfen kann, ein bisschen anders zu konsumieren. Ein
wirklich nachhaltiger Lebensstil bedeutet vielmehr immer auch,
weniger zu konsumieren.
Was, wie wir schon zu Deiner Zeit wussten,
keineswegs bedeuten musste, schlechter zu leben. Weniger kann
mehr sein, wenn es denn bewusst und freiwillig gewählt wird.
Jedenfalls ist heute klarer denn je, dass ein nachhaltiger Lebensstil
nicht zu haben ist, ohne weniger Mobilität zu konsumieren.
Was im Klartext bedeutet, gelegentlich auf eine Autofahrt zu verzichten.
Und stattdessen zu Fuss gehen. Was, wenn man es einmal begriffen
hat, einen doppelt positiven Effekt hat: Gehen schenkt nicht nur
Gesundheit, sondern auch ein gutes Gewissen.
Schliesslich hat Gehen auch eine geistig-seelische
Komponente, und deren Wiederentdeckung hat als dritter Grund viel
zu seiner Blüte beigetragen. Wenn ich mich nicht irre, hatte
dieser deutsche Komiker zu Deiner Zeit etwa drei Millionen Exemplare
seines Buches über eine Pilgerreise auf dem Jakobspfad verkauft.
Was doch auf eine grosse Bereitschaft hindeutet, den Fussweg als
spirituelles Abenteuer zu sehen, als Königspfad der Auto-Evolution
so zu sagen...
Neu war diese Erkenntnis natürlich nicht.
Du erinnerst Dich, dass wir mal einem glaubwürdigen östlichen
Weisheitslehrer begegnet sind, der uns versichert hat, das Gehen,
nicht das Sitzen, sei die Meditationsform des Westens. Und wer
auch immer postuliert hat, man solle keinem Gedanken trauen, den
man nicht im Gehen verfasst hat: Wir wussten schon lange, dass
der Mann Recht hat. Gehen kann den Geist klären, die Gedanken
fliessen lassen, zu neuen Einsichten führen. Und im Gehen
lässt sich die Verbundenheit mit Allem wunderbar erleben.
Das ist die Idee der Pilgerreise als Reise zu sich selbst, die
ihr volles Potenzial nur entfaltet, wenn man pilgern mit zu Fuss
gehen gleichsetzt.
All das hatten wir, begünstigt durch
entsprechende familiäre Prägung, im Wesentlichen aber
durch das Prinzip Selbstversuch, längst herausgefunden
und praktiziert. Insofern waren wir in dieser Beziehung wirklich
Vorläuferin. Und nicht nur in dieser. Nur so als Beispiel
haben wir im Internet so etwas wie einen Blog eingerichtet, lange
bevor es das Wort dafür gab. Oder wir haben den Prototyp
eines Audioblogs geschaffen, als es erst Tonbandkassetten als
Trägermedium dafür gab.
Dasselbe gilt natürlich auch für
Auto-Evolution. Lange bevor wir diesen Begriff entdeckten, haben
wir Auto-Evolution betrieben und gepflegt. Von daher war die Bezeichnung
"Vorläuferin" in unseren allzu früh geplanten
Memoiren schon richtig. Falls wir diese doch noch mal schreiben
sollten, wird das Thema, immer wieder Vorläuferin gewesen
zu sei, sicher eine gewichtige Rolle spielen.
Allerdings muss ich Dir verraten, dass sich
das Verhältnis dazu mit zunehmendem Alter schon verändert
hat, wobei ich mir fast sicher bin, dass Vorboten dieser Veränderung
schon zu Deiner Zeit spürbar waren: Waren wir lange stolz
auf die Rolle der Vorläuferin, die immer wieder einen Schritt
weiter ist als der Rest, und auch heroisch bereit, den Preis dafür
zu zahlen, so schlich sich doch zunehmend eine Sehnsucht ein,
von eben diesem Rest eingeholt zu werden. Mag sein, dass wir im
Alter einfach weniger gerne allein sind, jedenfalls bin ich ganz
glücklich darüber, dass sich das mehr und mehr ereignet.
Aus mancher Wegspur, die wir als Vorläuferin
getrampelt haben, ist mittlerweile nicht gerade eine Autobahn
geworden, aber doch immerhin ein gut ausgebauter Weg, der zu Fuss
nicht ohne Anstrengungen, aber doch insgesamt relativ bequem zu
bewältigen ist, aber auch mit dem Fahrrad oder zur Not sogar
mit einem Geländewagen. Und deswegen tummeln sich in den
Geländen, die wir als Vorläuferin erkundet haben, nicht
gerade Menschenmassen, worauf wir ja auch gut verzichten können,
aber immerhin eine ganze Menge interessanter Menschen.
All das hat schon zu Deiner Zeit begonnen,
doch diese Entwicklung hat sich bis zu meiner Gegenwart spürbar
verstärkt. Ob sich das, wie wir uns insgeheim schon in Deiner
Gegenwart erhofften, in Form einer steigenden Nachfrage nach den
Scouting-Diensten einer erfahrenen Vorläuferin ausgewirkt
hat, muss ich leider offen lassen, aber Du kannst immerhin schlussfolgern,
dass ich die ganze Zeit überlebt habe.
Viel wichtiger aber erscheint mir, dass viele
Themen, mit denen wir uns lange Zweit intensiv beschäftigt
haben, obwohl sie damals als exotisch und damit irrelevant galten,
mittlerweile den ihnen gebührenden Raum im öffentlichen
Bewusstsein einnehmen. Unser Beitrag dazu war logischerweise höchst
bescheiden, aber, so viel kann ich verraten, nicht ganz irrelevant.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir lange
Zeit stur, wenn auch keineswegs ohne Selbstzweifel, an unserem
Weg festgehalten haben, der mehr und mehr zu einem Fussweg wurde.
Weil wir unseren Gedanken Raum gegeben haben, sich beim Gehen
zu entfalten, konnten sie sich schliesslich ausbreiten und Resonanz
finden. Weshalb der Grundton meiner Gefühle beim Gedanken
an unsere Rolle als Vorläuferin nach wie vor aus Freude und
Stolz besteht.
In diesem Sinne gutes Gehen:
Deine Xenia Futura
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