Gigerheimat: Worte
Auto-Evolution / Mail 02

 

FROM: Xenia Futura

TO: Xenia Präsens

DATE: 14.01.2029 15:45:02

SUBJECT: Warum Auto-Evolution?

Liebe Gleichgesinnte

Ich weiss, es hat ziemlich lange gedauert, bis Du mein zweites Mail erhältst. Das liegt zum einen daran, dass ich Dir Zeit lassen wollte, um Dich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es zwischen uns eine schmale Brücke über die Zeit gibt. Zum anderen jedoch war ich die letzten Tage sehr beschäftigt, weil Arthur verschwunden ist.

Vermutlich war ich die letzte, die ihn gesehen hat. Du erinnerst Dich, er ging, während ich noch mein erstes Mail an Dich geschrieben habe, tief befriedigt weg, nachdem ihm die leisen Erschütterungen der weltweiten Zufallsgeneratoren gezeigt hatten, dass sein Experiment erfolgreich war. Mir allein hätte er ja nicht geglaubt...

Seit jenem Moment, über dessen wahre Bedeutung ich natürlich niemandem etwas erzählt habe, fehlt jede Spur von Arthur. Niemand kann sich einen Reim auf dieses spurlose Verschwinden machen. Offenkundige berufliche, finanzielle oder private Probleme gab es keine, und ebenso wenig hatte Arthur Feinde, die ihm hätten nach dem Leben trachten können.

Was mich betrifft, so habe ich natürlich meine Vermutungen. Nur kann ich mit niemandem darüber reden, denn ich habe Arthur das Versprechen gegeben, über unseren Versuch zu schweigen, es sei denn, er selbst entscheide sich anders. Was nun kaum noch geschehen wird.

Ich habe nämlich intuitiv die Gewissheit, dass Arthur nicht mehr auftauchen wird. Noch wird intensiv nach ihm gesucht, aber das wird sich legen. Dann wird sich die Erklärung durchsetzen, er hätte als führender Aktivist der Bewegung für das Recht auf das eigene Verschwinden dafür einfach ein besonders deutliches Zeichen setzen wollen, indem er von diesem Recht wortwörtlich Gebrauch gemacht habe.

Daran dürfte sogar etwas Wahres sein. Wofür auch immer er sich entschieden hat, ob für ein Leben als Einsiedler irgendwo in seinen geliebten Bergen, ob für einen Neuanfang ganz woanders oder ob gar für einen selbst bestimmten Abgang von dieser Welt, Arthur wird sein Verschwinden so gründlich inszeniert haben, wie es seiner Art entspricht.

Die Gründe für seinen Schritt, so vermute ich, liegen in unserem Experiment. Arthur wusste, dass seine Idee vom Informationstransport rückwärts in die Zeit grundsätzlich funktionierte. Das war natürlich eine grosse Genugtuung für ihn. Und das muss ihn zugleich tief erschreckt haben.

Wir haben mehrfach darüber gesprochen, was wohl wäre, wenn die Sache wirklich klappen würde. Ganz festgelegt hat Arthur sich dabei nie, aber er besass genug Phantasie und Realitätssinn zugleich, um zu wissen, dass es für seine Erfindung im Grunde keinen Platz gäbe. So jedenfalls hat er das Ergebnis seiner Überlegungen angedeutet.

Wenn nämlich bekannt würde, dass das mit den E-Mails aus der Zukunft wirklich funktioniert, wollten alle diese Möglichkeiten nutzen. Das aber würde zum einen die Empfänger in der Vergangenheit überfordern, denn die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, über die Zukunft Bescheid zu wissen. Zum zweiten wäre bald keine Kontrolle über die Inhalte mehr möglich, was Missbräuchen aller Art Tür und Tor öffnen würde. Und daraus würden schliesslich drittens ziemlich sicher Zeit-Paradoxa mit ziemlich üblen Folgen entstehen.

Erinnerst Du Dich an eine Science Fiction Kurzgeschichte, die wir vor langer Zeit gelesen haben? Es ging dort um eine Zeitreise in das Zeitalter der Dinosaurier. Ein Zeitreisender verliess die strickt abgegrenzten Pfade und zertrampelte dabei ein unbedeutendes Insekt. Diese winzige Ursache hatte zur Folge, dass die Zeitreisenden, die aus einer angenehmen demokratischen Gesellschaft aufgebrochen waren, bei ihrer Rückkehr in einer üblen Diktatur landeten. Ein gutes Gleichnis für Zeit-Paradoxa, so gut jedenfalls, dass wir es gespeichert haben.

Vor solchen Folgen hatte Arthur Angst, er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die Zeit wegen seiner Erfindung eine andere Richtung nimmt und die uns bekannte Gegenwart auslöscht. Deshalb, so vermute ich, wollte er sich von Anfang an damit begnügen, sich selbst in einem einmaligen Experiment die Richtigkeit seiner Ideen zu beweisen, um dann eben diese Idee ein für allemal zu begraben. Weil er sich selbst genug kannte, um zu wissen, dass er es kaum schaffen würde, in der gewohnten Umgebung für immer zu schweigen wie ein Grab, gehörte zu diesem Begraben auch das Verschwinden seiner eigenen Person.

Auf diese Absicht deutet auch das, was er mir mal über seine Datensicherung erzählte. Er hätte bei allen Dateien, die im Zusammenhang mit dem Projekt Zeitbrücke entstanden seien, eine Sicherung eingebaut, die bei jedem unbefugten Zugriff die Datei sofort zerstörten, und zwar unwiederbringlich. Was ich ihm bei seinen Computer-Talenten sofort geglaubt habe.

Sollte Artur also wirklich ganz verschwunden sein, brauche ich keine Angst zu haben, dass mein Geheimnis — unser Geheimnis natürlich — je gelüftet wird. Wobei, wie Du jetzt auch schon wissen wirst, Aufdeckung die beste Form der Verhüllung ist. Indem Du diese Mails über obskure Kanäle veröffentlichst, tust Du alles dafür, die paar Interessierten glauben zu machen, es handle sich dabei um eine Erfindung — und das ist gut so...

Arthurs Verschwinden bedeutet allerdings auch, dass der Kanal zwischen uns nur beschränkt offen sein wird. Sind die im geheimnisvollen Kästchen, das sich übrigens dann auch selbst zerstören wird, gespeicherten Ressourcen einmal aufgebraucht, wird es keine Fortsetzung geben. Macht nichts, wir haben schliesslich gelernt, uns mit dem zu begnügen, was da ist, und so nutze ich diesen Kanal fröhlich einfach so lange weiter, wie er existiert. Danach wirst Du wieder alleine zurecht kommen müssen...

Nach diesem Vorgeplänkel können wir nun endlich zur Sache kommen. Also zum Thema Auto-Evolution.

Ich weiss noch genau, wie erschüttert ich damals beim Erhalt des ersten E-Mails aus der Zukunft darüber war, dass sich diese Mitteilungen ausgerechnet auf das Thema beziehen sollten, um das mein Denken damals kreiste. Mittlerweile hast Du diese Erschütterung selbst erlebt und weisst auch, dass gerade diese Tatsache viel dazu beigetragen hat, dass Du an die Echtheit meiner Mails glaubst. Was diese Parallelität der Themen, neben allen anderen Merkwürdigkeiten, bedeuten soll, weiss ich bis heute nicht, aber seltsam ist es schon. Fast könnte man meinen, es stecke ein Plan dahinter, doch wenn dem so sein sollte: von mir ist er nicht.

Auch wenn die Erinnerung an die Zeit, in der Du gerade lebst, für mich prägend war, so verblasste sie doch im Laufe von einundzwanzig Jahren. Wenn ich also im Folgenden rekapituliere, was damals bei uns rund um das Thema Auto-Evolution los war, so tue ich das nicht für Dich, sondern für mich — und natürlich für allfällige Leser.

Es begab sich damals, dass wieder einmal dieses wohl bekannte Prickeln auftauchte, das die Schwangerschaft mit einem neuen Buchprojekt ankündigte, diese Lust darauf, wieder etwas Längeres zu schreiben, einzutauchen in diesen Prozess, der die Leiden des einsamsten Jobs der Welt mit den Wonnen verbindet, dem kreativen Prozessen in sich selbst beim Wirken zuschauen zu dürfen. Oder so.

Anders als auch schon hatten wir damals keinen festen Plan für ein neues Buch im Kopf, in dem von den Inhalten bis zur Gliederung vieles von Anfang an feststeht. Nur vage Ahnungen gab es, und einen Begriff, um den unser Denken zu kreisen begann: Auto-Evolution.

Anlass dazu war vermutlich die Begegnung mit einem bekannten Paartherapeuten und Autor. Wir und er hielten Vorträge am selben Kongress, ohne uns gegenseitig hören zu können, doch wir unterhielten uns angeregt bei einem kleinen Mittagessen am Rande des Kongresses. Besagter Herr war uns vor allem wegen einer Wortschöpfung äusserst positiv haften geblieben: Co-Evolution. So nannte er das, worum es letztlich bei einer Liebesbeziehung gehe: Um gegenseitige Anregung und Unterstützung bei der persönlichen Entwicklung.

Dahinter steckte eine Überzeugung, die wir uns schon lange zu Eigen gemacht hatten. Um es etwas pathetisch zu sagen: Der Sinn des Lebens ist Entwicklung, ist Evolution. Und der Sinn des persönlichen Lebens ist es, der zu werden, der man ist. Dass das in den Tiefen und Untiefen einer intimen Beziehung besser geht als allein im stillen Kämmerlein, hatten wir auch schon herausgefunden. Wie natürlich auch, dass das nicht immer gilt. Jedenfalls fanden wir Co-Evolution einen wahren und schönen Gedanken.

Wenn es aber Co-Evolution gibt, dann muss es auch so etwas wie Auto-Evolution geben. Also eine Entwicklung ganz aus sich selbst heraus. Dieser Gedanke hat uns damals unmittelbar eingeleuchtet, doch wir wollten wissen, ob das andere auch so sahen, und sind deshalb googeln gegangen. Heute gibt es dafür natürlich raffiniertere Methoden. Wenngleich das Grundprinzip gleich geblieben ist: Mit einfachsten Mitteln kann man den Wissensspeicher der Welt im Netz anzapfen.

Bei dieser Recherche ergab sich schon auf der reinen Zahlenebene ein interessantes Ergebnis: Ich habe die Zahlen bis heute gespeichert — 167 000 Treffer für Co-Evolution, nur 3 420 Treffer für Auto-Evolution, also fünfzigmal weniger! Ganz offensichtlich hatte sich bis damals die Idee von Co-Evolution durchgesetzt, jene von Auto-Evolution jedoch noch nicht.

Berücksichtigt man, dass sich ein Gutteil der Treffer für Auto-Evolution mit der Evolution von Automobilen befasste, woran wir natürlich weniger gedacht hatten, wurde diese Diagnose noch verschärft. Beim Rest der Treffer ging es im Wesentlichen um zwei Dinge: Zum einen um das Modell der sich aus sich selbst heraus schöpfenden Evolution, die keinen Schöpfergott und keinen intelligenten Designer braucht. Und zum anderen um die Idee der persönlichen Entwicklung aus sich selbst heraus, also um die Umsetzung der Devise: Werde die, die Du bist!

Das war damals genau das, was wir mit Auto-Evolution verbanden, wenngleich wir schon ahnten, dass auch die Bedeutungsebene der generellen Evolution mit einzubeziehen sein würde. Jedenfalls verfolgten wir zunächst die Idee, das Thema Auto-Evolution sehr persönlich zu behandeln, also gleichsam eine Art vorgezogener Autobiographie zu schreiben. In einem alten Ordner von damals (digital natürlich) habe ich sogar einen Titelentwurf gefunden, in dem der Untertitel "Bekenntnisse einer Vorläuferin" hiess...

Darüber kann ich natürlich heute nur lachen, und ich weiss noch, dass wir auch damals ziemlich schnell über diese Idee gelächelt und sie damit beerdigt haben. Allerdings erschien auch die Alternative, das Thema Auto-Evolution ganz von aussen zu betrachten und aus einer gleichsam wissenschaftlichen Perspektive zu beschreiben, nicht sehr verlockend. Was dazu führte, dass wir das Thema zunächst vertagten, bis uns etwas Gescheiteres dazu einfiel. Dann dauerte es nicht lange, bis mein erstes Mail Dich erreichte und wir wieder mitten im Thema waren. Wenn auch auf andere Weise als gedacht...

So viel zu unserer persönlichen Vorgeschichte. Inhaltlich, so sehe ich es in der Rückschau, war es schon damals so, dass wir Auto-Evolution als einen Schlüsselbegriff der Zeitdiagnostik identifiziert hatten. Das war es, worum es uns ging: Im Chaos der kulturellen Entwicklungen so etwas wie einen roten Faden zu entdecken. Abstand zu gewinnen zu den verwirrlichen und widersprüchlichen Einzelphänomenen, um aus der Distanz Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Grundmuster zu erkennen.

Was genau uns eigentlich ein Leben lang angetrieben hat, nach solchen verborgenen Grundmustern zu suchen, habe ich bis heute nicht herausgefunden. Dieser Drang nach Erkenntnis war einfach immer selbstverständlich da, und ich kann immer noch darüber staunen, dass er bei anderen Menschen keineswegs so ausgeprägt ist wie bei uns. Dir brauche ich nicht zu sagen, dass Erkenntnisdrang Segen und Fluch zugleich ist, doch es hilft alles nichts, wir mussten lernen, damit zu leben und das Beste daraus zu machen. Sprich: weiter suchen.

Wobei wir schon bis zu Deiner Gegenwart gelernt hatten, dass das Suchen allein auf Dauer weder Spass noch Sinn macht. Irgendwann sollte man mit dem Finden beginnen — nicht im Sinne von Gewissheit vermittelnden Antworten, sondern im Sinne der Reduktion von Ungewissheit. Im Klartext: Annäherung an das Optimum dessen, was uns beschränkten Geistern an Erkenntnis überhaupt möglich ist.

Du erinnerst Dich, dass wir, seltsamerweise wieder etwa einundzwanzig Jahre vor Deiner Gegenwart, ein "Magazin für SucherInnen" herausgegeben hatten. So hätten wir es schon zu Deiner Zeit sicher nicht mehr genannt, was eben auch daran lag, dass wir unserem Leitmotiv "verstehen, was läuft" mit wachsendem Erfolg nachgelebt hatten.

Was uns unter anderem zur Erkenntnis geführt hatte, dass Grundmuster, die wirkliches Erklärungspotenzial haben sollen, nie statisch sein können. Die Welt, wie wir sie erleben, ist nun mal nicht Sein, sondern Werden. Deshalb ist einzig das, was wir schon lange Fliessmuster nennen, in der Lage, uns dieses Werden verständlicher zu machen. So erklärt sich unsere Faszination für Fliessmuster-Begriffe wie Evolution oder Reifung.

Und natürlich unser Interesse für den Werte-Wandel. Dabei geht es ja immer um die Frage, was sich im zentralen Betriebssystem der Menschen verändert. Also um Fragen wie: Worum geht es im Leben? Was ist uns wirklich wichtig? Wonach streben wir? Was gibt unserem Leben Sinn? Diesen Entwicklungsprozess haben wir ein Leben lang beobachtet, immer getrieben vom Verlangen, in diesem chaotischen Strudeln so etwas wie Fliessmuster zu erkennen.

Ein bildender Künstler kann ein solches Fliessmuster malen — wir haben das immer wieder im Medium Photographie versucht. Doch da war immer auch die andere Seite, die den Drang verspürte, Fliessmuster zu benennen, ihnen einen Namen zu geben, sie in einem Begriff zu verdichten. Und so lief uns auf unserer Suche nach ebenso treffenden wie zündenden Begriffen eines Tages das Wort Auto-Evolution über den Weg.

Wenn wir diesen Begriff zunächst ziemlich grob mit "Selbst-Entwicklung des Menschen" übersetzen, stossen wir auf zwei grundlegende Ideen. Die erste heisst: Der Mensch ist entwicklungsfähig. Das ist, so sehr uns das erstaunen mag, keineswegs eine selbstverständliche Annahme. Lange Zeit dominierte die Vorstellung, der Mensch sei ein für allemal fertig geschaffen: "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbilde." Als Krone der Schöpfung — und diese braucht keine Weiterentwicklung mehr. In diesem Bild erscheint die Vorstellung, der Mensch könne, ja müsse sich ständig weiter entwickeln, geradezu absurd.

Nun kann man natürlich argumentieren, alle grossen Religionen hätten den Anspruch, aus real existierenden Menschen bessere Menschen zu machen. Das ist sicher richtig. Und vermutlich haben sie sogar im einen oder anderen Fall Erfolg gehabt. Solange die Menschen unerschütterlich von einer persönlichen Weiterexistenz nach dem Tode überzeugt sind, ob in Form von Himmel und Hölle oder vom ewigen Kreislauf der Wiedergeburten, solange lassen sie sich durch Angst vor künftiger Verdammnis oder durch Vorfreude auf himmlische Belohnungen ein Stück weit formen.

Allerdings wussten die grossen Religionen auch, dass dieses Stück nicht sehr grosszügig bemessen ist: Wir sind alle grössere oder kleinere Sünder. Deshalb bieten alle Religionen Möglichkeiten an, diese Sünden loszuwerden. Was im Endeffekt dazu führt, dass sich die Menschen damit abfinden, im Wesentlichen immer dieselben zu sein.

In unserem europäischen Kulturkreis haben die Kirchen ihre Fähigkeit, ihre Schäfchen, wenn auch begrenzt, nach ihren Vorstellungen zu formen, weitgehend verloren. Religion und Glauben sind zur Privatsache geworden. Für den öffentlichen Raum gilt, was Nietzsche schon am Ende des 19. Jahrhunderts verkündet hatte: Gott ist tot!

An seine Stelle traten im 20. Jahrhundert säkulare, also nichtreligiöse Heilslehren. Sie alle hatten, interessanterweise, einen viel stärkeren Anspruch als die alten Religionen, gemäss ihrer Heilslehre einen neuen Menschen zu formen. Die Kommunisten in Russland haben es versucht, die Nazis in Deutschland, die Rotgardisten in China und zuletzt, vermutlich am radikalsten, die Roten Khmer in Kambodscha. Das Ergebnis war überall ein Desaster.

Auch wenn es zynisch klingen mag, kann man all diese grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als fehlgeschlagene Versuche der kulturellen Evolution betrachten. Was uns zur schonungslosen Erkenntnis zwingt, dass nicht nur die biologische, sondern auch die kulturelle Evolution keinen menschlichen oder göttlichen Werten folgt, sondern blind alles Mögliche ausprobiert, buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste.

Der einzige Sinn dieses Geschehens kann und muss darin liegen, dass die Menschheit daraus etwas lernt. Die grauenhaften Opfer dieser Fehlversuche haben uns hoffentlich ein für allemal gelehrt, dass eine von aussen gesteuerte Evolution des Menschen nicht möglich ist. Der neue Mensch lässt sich nicht nach einer Ideologie formen. Diese Idee, die ja das pure Gegenteil von Auto-Evolution bildet, ist eine unmögliche Idee.

Es liegt in der evolutionären Logik, dass die Menschheit sich in einer solchen Situation, nachdem eine Idee so offenkundig versagt hat, auf die Suche nach Alternativen macht und dabei zwangsläufig zum Gegenpol der gescheiterten Idee vorstösst. Diesen Gegenpol bildet die Idee der Auto-Evolution.

Einen frühen Vorläufer dieser Idee finden wir ausgerechnet bei jenem Friedrich Nietzsche, der Gott für tot erklärt hatte. Er selbst brachte die Idee auf den Begriff des "Übermenschen". Ein Wort, bei dem wir fast zwangsläufig zusammenzucken, ist es uns doch aus dem Vokabular der Nazis bekannt, die sich explizit auf Nietzsche beriefen.

Dabei handelte es sich allerdings um ein klassisches Missverständnis, das übrigens von Nietzsches leibhaftiger Schwester kräftig gefördert wurde, als sich der arme Friedrich längst nicht mehr wehren konnte, weil er bereits geistig umnachtet oder tot war. Nietzsche dachte nämlich keineswegs an die Überlegenheit einer Rasse (oder Klasse). Der Übermensch ist nicht eine neue Gattung, welche auf den von ihm so genannten "Letzten Menschen" folgt, sondern er geht aus dem einzelnen Menschen hervor, der sich selbst überwunden hat.

Das ist natürlich auch eine grobe Vereinfachung von Nietzsches Ideen, doch entscheidend ist der Gedanke, dass sich der Mensch aus sich selbst heraus weiter entwickeln kann und soll. Damit haben wir einen frühen Vorläufer der Idee von Auto-Evolution gefunden, deren Quintessenz lautet: Der Mensch formt sich nach seinem eigenen Bilde.

Hätte Nietzsche allerdings Deine Zeit für eine Weile bei vollem Bewusstsein erleben können, wäre er wohl schleunigst in sein kühles Grab zurückgekehrt. Er hätte nämlich mit ansehen müssen, dass seine Idee noch einmal gründlich missverstanden wurde. Wohl war sie im Grundsatz mittlerweile allgemein akzeptiert, ja selbstverständlich geworden. Doch die meisten Menschen nahmen die Devise, sich nach ihrem eigenen Bilde zu formen, allzu wörtlich.

Den Begriff des Bildes interpretierten sie einseitig als ausschliesslich zur Welt der äusseren Erscheinungen gehörig. Und mit "formen" meinten sie deshalb folgerichtig nur das Verändern der Körperformen.

Du hast schon zu Deiner Zeit mit einer Mischung aus Abscheu und Schmunzeln beobachtet, mit welcher Geschwindigkeit und Intensität dieser Verformungswahn um sich griff. Ob Haare oder Zehen, ob Bauch oder Zähne, kein Körperteil wurde davor verschont, immer mehr Menschen investierten immer mehr Zeit, Geld und Schmerzen in die ideale Verformung ihrer Körper, und in manchen Kreisen wurde die Idee der Selbstvervollkommnung schon zum moralischen Imperativ, das heisst, wer sich entzog, wurde geächtet.

Ich habe bewusst die Vergangenheitsform gewählt, denn heute ist es deutlich anders. Nicht, dass die Schönheitsindustrie verschwunden wäre, bewahre. Es wird nur stärker toleriert, wenn sich jemand den Zwängen der faltenlosen Existenz entzieht. Und vor allem gibt es mehr Zonen der Koexistenz, also mehr Menschen, die zwar bis zu einem gewissen Grad ebenfalls in äusserliche Selbstvervollkommnung investieren, aber eben nicht nur in äussere. Kurzum, wir haben gelernt, dass es sich auch dabei um eine Frage des Masses handelt.

Und des Ausgleichs natürlich. Es geht bei Auto-Evolution nicht um einen Entweder-oder-Entscheid zwischen der rein körperlichen und der rein geistigen Ebene, an die Nietzsche bei seinem Konzept vom Übermenschen ausschliesslich dachte. In unserem Verständnis von Selbst-Entwicklung hat beides Platz.

Hätte Nietzsche in unserem Gedankenexperiment etwas mehr Zeit gehabt, um einen mehr als oberflächlichen Blick auf Deine Zeit zu werfen, wäre ihm natürlich aufgefallen, dass die Idee der Auto-Evolution bereits auch das von ihm bevorzugte geistige Terrain erobert hatte. Er hätte eine ab der Mitte des 20. Jahrhunderts unaufhaltsam anschwellende Flut von Büchern, Kursen und Seminaren beobachten können, die alle versprachen, Antworten auf drängende Fragen zu geben: Wie forme ich mich innerlich nach meinem Bilde? Wie werde ich glücklicher oder erfolgreicher? Wie angle ich mir einen besseren Partner? Wie finde ich mehr Sinn in meinem Leben?

Wo ein solches Angebot an Ratgebern aller Art besteht, muss eine entsprechende Nachfrage existieren. Anders gesagt: Wenn sich die Frage, wie ich mich in eine erwünschte Richtung weiter entwickeln kann, so massenhaft auftritt, dann müssen die beiden Grundgedanken von Auto-Evolution ebenso massenhaft akzeptiert sein. Nämlich, dass persönliche Entwicklung denkbar und wünschbar ist, und dass wir diese Entwicklung selbst steuern können.

Weil es nicht genug betont werden kann, wiederhole ich es gerne noch einmal: Das ist ein keineswegs selbstverständlicher enormer Entwicklungsschritt. Wir haben uns damit von der starren und statischen Vorstellung verabschiedet, der Mensch sei ein weitgehend festgelegtes Wesen und somit nicht entwicklungsfähig. Und wir haben gelernt, dass es nur eine Instanz geben kann, die diesen persönlichen Entwicklungsprozess vorantreiben und steuern kann, nämlich wir selbst.

Den meisten Menschen fallen solche fundamentalen Veränderungen gar nicht auf. Zum ersten reicht meistens ihr Gedächtnis zu kurz, und zum zweiten erkennt man einfach keine Muster, wenn man mitten im Gewühle des Alltagsgeschehens steckt. Es braucht schon so exzentrische Typen wie uns, die sich bewusst ein Stück weit von diesem Gewühl distanzieren und in die Höhe streben, von wo aus sie einen besseren Überblick haben.

Aus dieser Warte haben wir damals zu Deiner Zeit zwei Fliessmuster wahrgenommen. Erstens: Auto-Evolution ist für eine wachsende Zahl von Menschen zu einem zentralen Lebensthema geworden. Und zweitens: Die meisten dieser Menschen sind sich dieser Tatsache kaum bewusst, was dazu führt, dass sie in ihrem Streben nach Auto-Evolution allzu leicht die Orientierung verlieren.

Natürlich steckt in dieser zweiten Beobachtung eine gehörige Portion Wertung, nämlich die Überzeugung, erfolgreiche Auto-Evolution gehe nicht ohne Selbstbewusstheit. Im Klartext: Statt sich unbesehen auf jeden Schragen eines Schönheitschirurgen zu legen oder blind jedes neue Buch eines Gurus zu kaufen, ist es klüger, sich gelegentlich selbst ein paar Fragen zu stellen. So wie zum Beispiel: Was treibe ich da eigentlich? Worum geht es mir? Wo will ich hin? Wie komme ich am besten dahin?

Sich selbst, seine eigenen Antriebskräfte und sein eigenes Tun, auf diese Weise von aussen zu betrachten, und sich dazu auf eine höhere Warte zu schwingen, auf eine Meta-Ebene, also Selbst-Reflexion zu betreiben, war aus unserer Warte schon lange kein überflüssiger Luxus, sondern pure Notwendigkeit. Jedenfalls dann, wenn man, wie wir, den Gedanken der Auto-Evolution stark verinnerlicht hatte. Wir haben es in langen Jahren gelernt: Wenn man nicht gelegentlich still steht und inne hält, kommt man auf Dauer nicht wirklich voran.

Zu Deiner Zeit teilte nur eine winzige Minderheit der Menschen diese unsere Ansicht. Mittlerweile sind es deutlich mehr geworden. Selbst-Reflexion und Denken auf einer Meta-Ebene sind keine Schimpfworte mehr, sondern wertvolle Tugenden, die mehr und mehr in sorgfältig gewählten Zeiten und Zonen der äusseren Ruhe gepflegt werden.

Beides, Selbst-Reflexion und Denken auf einer Meta-Ebene, braucht, um richtig in Schwung zu kommen, so etwas wie Kristallisationskerne in Form von anregenden Begriffen. Begriffe, die sofort Assoziationen wecken, ohne diese zum vornherein in eine feste Form zu pressen. Begriffe, die einem vertraut vorkommen und doch frisch wirken. Begriffe auch, die leicht irritieren, denn Irritation kann eine hervorragende Anregung zum Denken sein.

Unser Gespür damals war richtig: Auto-Evolution erfüllt als Begriff all diese Anforderungen. Und deshalb hat er bis in meine Gegenwart Eingang ins öffentliche Bewusstsein gefunden, nicht gerade bis in die Boulevardpresse, aber doch bis in die Frauenzeitschriften, wenn Du weisst, was ich meine...

Zu Deiner Zeit war diese Entwicklung für die Wenigsten absehbar, jeder ordentliche Verleger hätte die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, wenn wir ihm ein Buch mit dem Titel Auto-Evolution vorgeschlagen hätten. Selbst unser engeres Umfeld hat sich gefragt, worauf wir uns denn da wieder einlassen würden, indem wir uns mit einem völlig exotischen und damit ebenso völlig unverkäuflichen Thema befassten, statt endlich mal einen ordentlichen Beratungs-Bestseller zu schreiben.

Ich weiss deshalb, dass es Dir gut tun wird zu hören, dass Du am Ende Recht behalten wirst, indem Du auf den Begriff Auto-Evolution gesetzt hast. Manchmal lohnt es sich eben doch, stur zu bleiben. Ich kann Dir dafür keine Genugtuung in Form von Konto-Zuwachsraten versprechen, weil das zu meinen Tabu-Themen gehört, doch es tut einfach gut zu wissen, dass das eigene Denken und Schreiben, dieses ja oft auch mühsame Grübeln, nicht ganz umsonst sein wird. Deshalb wiederhole ich es gerne noch einmal: Ja, Auto-Evolution ist zum Thema geworden.

Wir waren also einmal mehr so etwas wie Vorläuferinnen. Diesen Begriff haben wir damals bei unseren ersten Überlegungen zu einem Buch über Auto-Evolution nicht zufällig erwählt, ich mag ihn bis heute. Gerne erzähle ich Dir in meinem nächsten Mail mehr über die Gründe für diese Sympathie, doch jetzt muss ich erst einmal raus, um mich an der frischen Luft zu bewegen. Vorläuferin hin oder her, jetzt muss ich erst einmal laufen.

Mach’s gut und bis bald:

Deine Dir innig verbundene

Xenia Futura

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Mit dem Schreib-Projekt "Auto-Evolution" greife ich nach fast zehn Jahren auf eine Form zurück, die sich damals in verschiedenen Temenfeldern bewährt hat: E-Mails aus der Zukunft von Xenia Futura.

Es geht dabei um die Schilderung von Zukunft im Plusquamperfekt, also die Beschreibung von Zukunft so, als ob sie schon geschehen wäre.

Absenderin ist Xenia Futura, "die Fremde, Unbekannte aus der Zukunft". Alles Weitere dazu erfahren Sie im Vorwort des Herausgebers und im ersten E-Mail aus der Zukunft.

Das Projekt unterliegt selbst den Gesetzen der Auto-Evolution, das heisst, es entwickelt sich spontan und aus sich selbst heraus. Fest steht nur die gewählte Form, für den weiteren Fortgang dagegen gibt es keinen festen Plan.

Sie können den Fortgang des Projekts an dieser Stelle verfolgen. Jedes neu eingetroffene E-Mail aus der Zukunft wird hier sofort zugänglich gemacht.

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