Gigerheimat: Worte
Kretische Europa-Essays

 

Inseln in der Insel

Warum hat Zeus Europa ausgerechnet nach Kreta gebracht? Von der Antwort auf diese Frage könnte die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert entscheidend abhängen. Denn, nicht wahr, die sich abzeichnende Krise Europas ist nichts anderes als eine Identitätskrise. Mit solchen kenne ich mich aus, persönlich und kollektiv, schließlich befindet sich mein eigenes europäisches Land, die Schweiz, seit eineinhalb Jahrzehnten in einer permanenten Identitätskrise, und so fällt es mir leicht, eine solche auch bei Europa zu diagnostizieren.

Eine Identitätskrise ist ganz leicht zu verstehen, sofern man sich nicht gerade in einer solchen befindet. Sie lässt sich auf eine Kurzformel bringen: Mangelndes Selbstbewusstsein schafft mangelndes Selbstbewusstsein. Wobei im ersten Teil der Gleichung Selbstbewusstsein als Bewusstsein von sich selbst verstanden wird, also als bewusste Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und Grenzen, Wünsche und Ängste, Zukünfte und Wurzeln. Auf der anderen Seite wird Selbstbewusstsein als jenes Gefühl verstanden, das auf Vertrauen in sich selbst aufbaut und so Energien und Fähigkeiten freisetzt und fördert.

Ebenso leicht ist deshalb die Therapie: Mehr Selbstbewusstsein schafft mehr Selbstbewusstsein. Und da sich als Einstieg in diesen Prozess noch immer die Besinnung auf die eigenen Wurzeln empfiehlt, steht obige Frage im Raum. Packen wir sie an.

Noch lebende Zeugen stehen uns leider nicht zur Verfügung, noch nicht mal ordentliche Akten. Alles, was wir haben, ist ein Mythos, hunderte von Jahren nach den Ereignissen, auf die er sich bezog, von den späteren Siegern und Eroberern aufgeschrieben. Von der minoischen Hochkultur, deren Anfänge der Mythos erzählt, gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Es bleibt uns nur, den Mythos zwischen den Zeilen zu lesen, was gar nicht so schwer ist.

Vordergründig erzählt er einfach eine von vielen erotischen Eskapaden von Götterchef Zeus. Dieser nähert sich gerne lüstern irdischen Damen, und da diese ob des göttlichen Anblicks erschrecken könnten, was ihrer Hingabebereitschaft nicht eben förderlich wäre, verwandelt er sich dazu gerne in Tiergestalt. Bei Leda war es ein Schwan, bei Europa jetzt eben ein weißer Stier. Dieser taucht an den Gestaden des heutigen Libanon, damals Phönizien genannt, auf, als die schöne junge Landadelige Europa daselbst ein Bad zu nehmen geruht. Sie ist hingerissen von dem wilden Kerl und setzt sich auf ihn drauf. Schwupps sind Ross, äh Stier und Reiterin abgetaucht, flugs geht der Schwumm übers Meer gen Kreta, umrundet die halbe Insel und endet schließlich in der Bucht von Matala. Dort geht es in munterem Galopp landeinwärts, bis ein schön ebenes Liebesplätzchen gefunden ist, und schon sind drei Söhne gezeugt, woraufhin Zeus wie immer Vaterflucht begeht. Der eine der Söhne, Minos genannt, setzt sich schließlich gegen seine Brüder durch und wird König von Kreta oder wie immer die das damals genannt haben.

Soweit die Story. Betrachten wir nun die handelnden Personen. Europa zunächst. Völlig ungeklärt bleibt ja, ob sie wirklich entführt wurde, oder ob sie einfach den weißen Stier so oberaffengeil fand wie später ihre Schwiegertochter den ihren, dass sie ihm einfach überallhin gefolgt wäre, selbst nach Kreta. Besagte Schwiegertochter, die Gattin des Minos also, muss man wissen, war so geil auf einen anderen Stier, dass sie sich von ihrem (dem Ingenör ist nichts zu schwör)-Daniel Düsentrieb ein Drei-D-Modell einer Kuh bauen ließ, unter dem sie sich versteckte, um vom blöden Stier, der den Irrtum natürlich nicht merkte, begattet werden zu können, die dumme Kuh, denn das führte zu einem Ungeheuer namens Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, das man in einem eigens dazu angelegten unterirdischen Labyrinth verstecken musste, was wieder zu labyrinthischen Komplikationen führte, denen zu folgen jetzt zu weit führen würde.

Ob Europa also mehr oder mehr freiwillig mit geschwommen ist, ist jedenfalls weniger wichtig als ihre Eigenschaft als junge, schöne und edle Maid aus fremden Landen — eine ideale Frischgenkur für ein Völkchen, das eine solche dringend brauchen konnte. Das, gemixt mit göttlichem Samen, musste einfach einen riesigen kulturellen Sprung nach vorn bedeuten. Was es dann ja auch tat.

Viel mehr, als dass sie die ihr zugedachte Rolle als Blutauffrischerin von außerhalb der Insel gut ausfüllte, wissen wir von Europa nicht. Umso mehr dagegen von Zeus, den wir uns ja nicht nur als gelangweilten Lüstling vorstellen müssen, sondern auch als obersten Boss der Götterwelt und damit als Chefpolitiker. Wir können also annehmen, dass er seine guten Gründe dafür hatte, diesen wertvollen evolutionären Impuls, nach dem auch andere Gegenden seines Firmengebiets Griechenland gedürstet hätten, ausgerechnet Kreta zukommen zu lassen.

Wobei, Gefühle waren sicher auch im Spiel, und solche werden den sehr humanen griechischen Göttern ja durchaus zugebilligt, nostalgische Gefühle genauer. Zwar wohnte Zeus mit seiner ganzen Sippschaft der Olympier längst auf dem Berg Olymp, und der steht in Nordgriechenland, nicht auf Kreta, doch seine Kindheit hatte Göttervater Zeus auf Kreta verbracht, behütet vor den Nachstellungen seines Vaters durch die guten Geister der Insel. Offenbar war sich seine Mutter sicher, dass er dort, hoch oben in einer Höhle, am sichersten war. Soviel wissen die griechischen Göttersagen mit Sicherheit zu berichten, auch wenn der Teufel wie immer im Detail steckt, weshalb sich mehrere Höhlen um diesen speziellen Ruf streiten.

Erstaunlich ist allerdings der Kern des Mythos: Die Griechen, die das aus welchen Gründen auch immer untergegangene minoische Reich übernommen hatten, besaßen keine ausreichende Macht, um als Sieger die Geschichtsschreibung so weit zu manipulieren, dass sie Kreta den Ursprungsmythos ihres Götterhimmels hätten wegnehmen können. Ein späterer Umzug aufs Festland, gut, aber nicht der Anfang. Am Anfang war und blieb Kreta, und auch später verfügte Zeus, dass jene Früchte, die Europa gebracht hatte, auf einer Insel blühten, umgeben von schützendem und nährendem Meer.

Und verbindendem, denn auch nach dem Start lebte die erste Hochkultur auf europäischem Gebiet (in Mitteleuropa hausten damals die Pfahlbauer, auch keine schlechte kulturelle Leistung, aber mit derjenigen Kretas doch nicht ganz zu vergleichen) vom Austausch über das Meer mit allen Nachbarn.

Das ist es, was jene Inselromantiker auf dem Festland gerne vergessen, wenn sie aus ihrem Territorium am liebsten eine Insel machen würden, indem sie an den Grenzen einen hohen Zaun hochziehen, durch den nur noch die ganz Braven (oder ganz Reichen) eingelassen werden: Echte Inseln leben nicht von der Isolation, sondern vom Austausch. Inselträumer gibt es überall, nicht nur in der Schweiz, und sie werden auch in den Ländern der EU wieder zahlreicher werden — und zwar werden diese Inselträume sowohl für die einzelnen Länder als auch für Europa als Ganzes blühen. Europa träumt seit ihrer Landung auf Kreta den Traum, eine Insel zu sein, abgeschottet gegen und sicher vor dem Rest der Welt, von der Insel Europa als Festung Europa.

Lange Zeit war dieser Traum vertagt, weil sich innerhalb der Insel neue Inseln gebildet hatten, Unterinseln sozusagen, die sich gar gram waren und sich so heftig befehdeten, dass keine Zeit für die Träume von der ganzen Insel blieb. Erst vor einem halben Jahrhundert, erlangten die Europäer, blutig geprügelt vom selbst gestalteten Schicksal, die Einsicht von der Existenz der ganzen Insel (wieder). Und nicht genug damit, dass sie sich Europas bewusst wurden, sie gingen auch daran, Institutionen und vor allem Prozesse zu schaffen, die es verunmöglichen sollten, jemals wieder hinter den erreichten Stand der Erkenntnis davon zurückzufallen, dass die Inseln in der Insel ohne einander und ohne die Existenz der ganzen Insel nicht gedeihen konnten — eine angesichts der Vorgeschichte ebenso unglaubliche wie staunenswerte Erfolgsgeschichte.

Die Vorstellung von Europa als Insel hat nur einen kleinen Haken: Die geografischen Voraussetzungen dafür stimmen nicht ganz. Globalgeografisch gesehen ist Europa zwar eine Insel, aber eben nur eine halbe, eine Halbinsel also. Genauer gesagt, eine Art Wurmfortsatz des großen asiatischen Kontinents, bestenfalls aber ein Subkontinent von der Art Indiens. Streng logisch gesehen ist also Europa gar kein Kontinent, aber sagen Sie das bitte nicht weiter...

Der kleine, aber feine Unterschied zwischen einer Insel und einer Halbinsel ist der, dass eine Insel rundum eine natürliche Grenze hat, nämlich das Meer, was für drei Viertel einer Halbinsel auch gilt, und damit auch für Europa, nicht aber für die vierte Seite, die offene Flanke. Dort ist es immer Ansichtssache, wo eine Grenze verläuft. Der Prozess der EU-Osterweiterung, der bisherigen und der geplanten, zeigen es überdeutlich: Die Grenze Europas nach Osten ist offen, nicht ein für allemal festgelegt. Und diese Erkenntnis stört das Inselfeeling empfindlich.

Sagen wir es klarer: Sie macht Angst. Das bisherige Europa findet sich in der Rolle des Hausbesitzers wieder, bei dem plötzlich fremde Leute, die bisher weit draußen vor dem Zaun gezeltet haben, Einlass begehren. Er kann sie schlecht draußen lassen, doch er ahnt die Risiken. Entweder muss er die armen Verwandten durchfüttern, oder aber sie sind leistungshungriger als er und übernehmen deshalb bald das ganze Haus. Und draußen klopfen schon die nächsten an die Tür. Mit den Ängsten, die aus Europas Lage auf einer Halbinsel resultieren, wird also weiterhin zu rechnen sein. So leicht lässt sich der Inseltraum nicht verscheuchen, Tatsachen haben Träumer noch nie gehindert, nicht mal geografische.

Deshalb braucht der Inseltraum ein neues Objekt, an dem er sich im besten Sinne austoben kann. Europa braucht eine klare und überzeugende Begründung für die Aussage: Wir sind eben doch eine Insel!

Die lässt sich liefern. Und zwar ganz einfach mit dem Konzept der Inseln in der Insel. Solche sind offensichtlich ein Naturgesetz. Wenn Sie sich Kreta etwas genauer anschauen, finden Sie in der Insel durchaus interne Inseln mit eigener Geschichte, eigener Kultur, eigenem Selbstbewusstsein und klaren Vorstellungen über die Abgrenzungen zu den anderen Inseln in der Insel. Die Bewohner des Südwestens Kretas, die Sfakioten, etwa, gelten im übrigen Kreta bis heute als die wilden Kerle, die sich nicht ganz auf dem hohen zivilisatorischen Niveau des Rests der Insel bewegen. Oder denken Sie an den schweizerischen Kantönligeist (das ist bei uns von Kanton zu Kanton verschieden...). So sind auch die vielen Inseln in der Insel Europa ein natürliches Produkt der kulturellen Evolution.

Das ist auf der ganzen Welt so. Das Spezielle an Europa ist, dass dieses, spät zwar, aber immerhin, erkannt hat, dass man diese Tatsache auch positiv deuten kann. Europa ist daran zu erkennen, mühsam genug und mit vielen Rückschlägen, aber letztlich doch erfolgreich, dass Vielfalt nicht das Problem ist, sondern die Lösung. Oder, weil jedes positive Prinzip ins Negative kippt, wenn man es übertreibt, noch besser: so viel Einheit wie nötig, und so viel Vielfalt wie möglich.

Mit diesem Prinzip, das zum Kern einer zukunftsgewandten europäischen Identität werden könnte, ist Europa (bisher) auf der Welt allein, es ist damit tatsächlich eine Insel, wenn auch "nur" eine geistige. Eine bunte Schar von Inseln in der Insel, die sich zugleich als Bewohner ihrer eigenen Unterinsel wie als Teil der ganzen Insel empfinden: das funktioniert. Kreta oder die Schweiz zeigen es. Und Europa im Grunde längst auch.

Etwas fehlt noch in diesem Bild, nämlich die dritte Dimension. Nicht wahr, wir stellen uns Inseln im Allgemeinen ja als zweidimensionale Gebilde vor, so wir sie von den Landkarten her kennen: Weiße oder braune Flächen, ganz umgeben von einer blauen Fläche. Wer Kreta kennt oder sonst eine der vielen gebirgigen Inseln dieser Welt, weiß, dass dieses Bild längst nicht immer stimmt. Inseln müssen nicht flach sein, sie können sich nur in der Länge und Breite erstrecken, sondern auch in der Höhe. Inseln sind dreidimensionale Gebilde.

Ein hübsches Bild für dreidimensionale Inseln sind Schaumblasen. Ja, genau die, die Sie aus Ihrem Spülbecken oder Ihrer Badewanne kennen. Zartwandige schimmernde Kugeln, kleine und große, die mit mehreren Nachbarkugeln Austauschflächen haben, und die wiederum Teile von größeren Gebilden sind. Inseln in der Insel, um eine dritte Dimension erweitert. Jede Schaumblase ist ein eigenständiges Wesen und zugleich Teil eines größeren, und zwischen den einzelnen Kugeln kann man sich bewegen, wenn man die Grenzen vorsichtig überschreitet und sie nicht zum Platzen bringt, was schade wäre, ist doch eine Welt, die nur noch aus einer großen Blase besteht, viel ärmer und langweiliger als das ordentliche Chaos eines richtigen Schaumbads.

Es gibt übrigens Physiker, welche unser eigenes Universum als kleine Schaumblase in einer ganzen Badewanne voll Schaum sehen. Ein hübsches Bild, wenn es denn stimmt. Bevor wir das herausfinden, können wir es ruhig schon mal auf Europa anwenden. Neben der Schaumgeborenen Aphrodite, der Göttin der Schönheit (ist es nicht wunderbar human, der Schönheit eine eigene Gottheit zu widmen?), könnte Europa durchaus auch seine Namenspatronin in den Stand einer Schaumgeborenen erheben.

 

 

 

Die einzelnen Essays:

1. Inseln in der Insel

2. Pflanzliches Gedächtnis

3. Das wohltemperierte Europa

4. Kretische Freiheiten

5. Europäische Zauberformel Enschleunigung

6.Übersetzungskunst

7. Die Stimme der Evolution


Die sieben Essays gibt es (samt Bildern) auch als PDF-Datei. Wenn Sie diese gerne kostenlos zugesandt hätten, schicken Sie mir einfach ein Mail.


Mehr zu meinem aktuellen Kreta-Buch hier.

 

 

zurück zur Übersicht der Wortbeiträge von Andreas Giger