Gigerheimat: Worte
Kretische Europa-Essays

 

Pflanzliches Gedächtnis

Europa leidet unter einem Mangel an Geschichte. Diese Aussage klingt zunächst ziemlich bescheuert, was daran liegt, dass wir mit Mangel automatisch ein Zuwenig an Quantität assoziieren. Davon kann hier nun wirklich keine Rede sei. Wenn wir uns daran erinnern, dass etwa Serbien seine Großmachtträume auf Grund einer Schlacht träumte, die vor tausend Jahren stattfand, müssen wir eher davon ausgehen, dass Europa ein Zuviel an Geschichte hat, an einfach nicht verschwinden wollenden Konfliktlinien, die ihre unheilvolle Wirkung bis in die Gegenwart hinein entfalten.

Von diesem Überfluss an Geschichte ist hier auf Kreta besonders viel zu spüren. Viertausend Jahre sind hier wie in einer Schichttorte übereinander getürmt und gestapelt, friedliche und glückliche Zeitschichten kommen dabei kaum vor.

Mangel kann aber auch mangelhaft bedeuten. Mangelhaft an der europäischen Geschichte ist, dass es sie als solche nicht gibt. Es gibt nur einen Haufen Ländergeschichten, immer aus einer notwendigerweise beschränkten Perspektive geschrieben und daher überhaupt nicht zusammen passend. Mit nicht allzu viel Übertreibung könnte man behaupten, die Tatsache, dass die Schulen zweier Länder ganz verschiedene Versionen der gemeinsamen Geschichte erzählen, hätte schon zu Kriegen geführt.

Eine Geschichtsschreibung dagegen, welche all diese unterschiedlichen Erzählungen zu einer einzigen Geschichte aus der Perspektive von Europa als ganzem vereinigt, gibt es noch nicht. Wer sollte sie auch schreiben? Europäerinnen und Europäer sind immer befangen, Teamarbeiten produzieren in der Regel nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, was hier nicht reichen wird, und Historiker von außerhalb sind in ihrer Geschichte von Kontakten nicht immer erfreulicher Art mit Europa auch nicht unbeleckt. Vielleicht braucht es dazu wirklich einen Außerirdischen...

Weil die schlimmste Form von destruktiven Vergleichen eine gegenseitige Anrechnung von erlittenem Leid ist, müsste eine wahrhaft europäische Geschichte auf der Idee des gemeinsamen Leides aufbauen. Wenn wir von ein paar Privilegierten absehen, die es immer gab, war Europas Geschichte für die meisten Menschen, die jemals hier gelebt haben, eine solche des Leids, von Krieg und Besatzung, von Hunger und Unfreiheit.

Kreta kann davon ein garstig Lied singen. Seit die Minoer untergegangen sind, wurde die Erde hier mit (aus heutiger Sicht) unnötig vergossenem Blut geradezu getränkt, die Dornenkrone zur einzig verlässlichen Kopfbedeckung. Was keineswegs nur auf die wechselnden Besatzer der Insel geschoben werden kann, ein guter Teil des Leids war hausgemacht. Es gibt mittlerweile klare Hinweise auf Blutopfer schon zu minoischen Zeiten.

Wenn Europa erkennt, dass all seine Teile Leid erlitten und verursacht haben, und das es keinen Sinn macht, einzelne Elemente ständig gegeneinander zu verrechnen, dann ist ein erster wichtiger Schritt hin zu einer zukunftstauglichen europäischen Identität getan. Erst dann wird auch der zweite Schritt möglich sein, nämlich das bewusste Erkennen, dass Europa in seiner Geschichte auch eine Menge Positives produziert hat. Zukunft braucht Herkunft, die leidenschaftslose Erinnerung an Leid und Freud.

Doch es gibt eine Zeit für Erinnerung, und eine Zeit, um vorwärts zu blicken. Erinnerung ist wichtig, aber man kann auch in der Vergangenheit stecken bleiben. Das kann auch daran liegen, dass unser Gedächtnis ein steinernes ist. Was man hier auf Kreta ganz wörtlich nehmen kann: Geschichte wird vornehmlich an Steinen festgemacht, an Ruinen, die man erst wieder dem Boden entreißen musste, an stehen gebliebenen Gebäuderesten oder an wohlerhaltenen Bauten aus alter und uralter Zeit. Mehr als diese stummen Zeugen des steinernen Gedächtnisses erleben die meisten Besucher nicht. Man kann sich zwar durch Lektüre einige Flecken dieser Steine mit real fundiertem oder frei phantasiertem Leben füllen, aber am Ende bleibt immer eine Botschaft übrig, die man je nach Temperament als traurig oder als tröstlich empfinden kann: es ist vorbei.

Für die Köpfe der Einheimischen gilt das natürlich nicht. Hier ist die Geschichte durchaus noch präsent, besonders natürlich jene des zweiten Weltkriegs. Entsprechend lebendig ist die Erinnerung daran, was die Kreterinnen und Kreter damals erlitten haben. Dafür ist ihre Reaktion auf die Nachfahren der damaligen Besatzer aus Deutschland erstaunlich offenherzig. Anders als bei anderen Nachfahren von Naziopfern werden Deutsche auf Kreta herzlich empfangen, so als sei nichts zurückgeblieben.

Was so natürlich nicht stimmt, jedoch Ausdruck einer ausgesprochen pragmatischen — und damit vorwärts gerichteten — Haltung ist, die ihre Wurzeln gerade in einer langen Geschichte des Leids hat: Es bringt nichts, zu sehr über das Vergangene zu grübeln, das Leben findet heute und morgen statt.

Die Natur auf Kreta liefert dafür ein schönes Symbol: Geschichte in Form von Steinen aller Art (oder auch von diskret entsorgtem Zivilisationsmüll) wird einfach überwuchert. Damit ist natürlich nichts wirklich weg, aber es wird gnädig unserem Anblick entzogen. Es reicht dann, dass wir uns gelegentlich daran erinnern, der ganze Dreck sei noch da, den Rest unserer Zeit können wir dann getrost noch wichtigeren Dingen wie der Gegenwart und der Zukunft widmen.

Diese Form von pflanzlichem Gedächtnis könnte Europa gut gebrauchen. Was heißt hier könnte?

 

 

 

Die einzelnen Essays:

1. Inseln in der Insel

2. Pflanzliches Gedächtnis

3. Das wohltemperierte Europa

4. Kretische Freiheiten

5. Europäische Zauberformel Enschleunigung

6.Übersetzungskunst

7. Die Stimme der Evolution


Die sieben Essays gibt es (samt Bildern) auch als PDF-Datei. Wenn Sie diese gerne kostenlos zugesandt hätten, schicken Sie mir einfach ein Mail.


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