Kretische Freiheiten
Freiheit oder Tod! Der deutsche
Titel dieses berühmten Kreta-Romans von Kazantzakis ist zwar
sehr frei gewählt, im Original heißt das Werk schlicht
"Captain Michailis", doch er trifft den Kern der Sache.
Im Laufe der Jahrhunderte haben in Kreta immer wieder Aufständische
zu den Waffen gegriffen, um gegen die Besatzer ihre Freiheit zu
erkämpfen, und meistens wussten die Beteiligten, dass die
Chance auf Tod wesentlich größer war.
Wie formulierte es Schiller
in seinem "Wilhelm Tell" so schön? "Lieber
den Tod als in der Knechtschaft leben..." Kretas Widerstandskämpfer
kannten diese edle Zeile nicht, aber sie wollten, koste es was
wolle, tatsächlich die Freiheit von ihren Besatzern.
Mit diesem Ansinnen war Kreta
im übrigen Europa natürlich längst nicht allein.
Von den Sklavenaufständen im alten Rom über allerlei
Bauernkriege im Mittelalter bis hin zu den Kämpfen der protestantischen
Wiedertäufer zieht sich eine lange Spur von meist zum vornherein
zum Scheitern verurteilten Kämpfen für die Freiheit
von Knechtschaft durch die europäische Geschichte. Die französische
Revolution war ein erster, wenn auch vorübergehender Erfolg
in dieser Geschichte, ab dann setzte sich die Demokratie und damit
ein größeres Stück Freiheit immer mehr durch.
Im zwanzigsten Jahrhundert
wurde Europa dank gütiger Mithilfe der Amerikaner zunächst
vom Faschismus befreit. Die Gründung der Europäischen
Union war wesentlich ein Projekt der Freiheit, der Freiheit von
der Geißel des Kriegs. Später, nachdem der Kommunismus
morsch geworden war, vergrößerte sich Europa naturgemäß
gen Osten, denn das europäische Projekt, frei von Diktatur
und Totalitarismus zu werden, ist unteilbar.
Ein weiteres Freiheitsmotiv
durchzieht die Geschichte Europas, vor allem auch jene der Europäischen
Union: der Wille, die Menschen frei zu machen von sozialer Not,
sei sie durch Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit verursacht.
Die Idee des europäischen Sozialstaates ist, auch wenn aus
der guten Absicht oft schlechte Wirkung geworden sein mag, zunächst
ein Projekt der Freiheit, denn wer soziale Not leidet, kann nicht
wirklich frei sein.
Wie ein Brennglas fokussiert
die Geschichte Kretas jenen unbedingten Willen zur Freiheit, der
auch die Geschichte Europas durchzieht, und der, im Kleinen wie
im Großen, letztlich erfolgreich war. Und genau darin liegt
das Problem, das auf Kreta so sichtbar ist wie in ganz Europa:
Wir waren erfolgreich darin, unsere Freiheit von zu gewinnen.
Und stehen jetzt ratlos vor der Frage: Freiheit wozu?
Dieses Problem hatten die
alten kretischen Freiheitskämpfer nicht, die bis heute auf
vergilbten Schwarzweißphotos mit riesigem Schnauzbart und
umgehängtem Gewehr stolz lächelnd von den Wänden
grüßen. Sie wollten nur eines: In Ruhe gelassen zu
werden, um ungestört den eigenen Arbeiten und Geschäften
nachgehen zu können, und um ihr Leben überhaupt so zu
leben, wie sie wollten. Was meistens hieß: wie sie es seit
Alters her gewohnt waren. Großartige Konzepte von Freiheit
brauchten sie dafür nicht.
Damit erinnern sie verblüffend
an den Helden aus dem eingangs zitierten "Wilhelm Tell"
von Friedrich Schiller. Wilhelm Tell ist ein einfacher Mann, der
nichts anderes will als seine Ruhe, und der den Tyrannen nicht
wegen grandioser Freiheitsphantasien hinterrücks mit seiner
Armbrust erschießt, sondern weil dieser in seine Privatsphäre
eingedrungen ist und seine Würde und Integrität verletzt
hat. An den freiheitlichen Verschwörungen seiner Landsleute
("wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern...")
beteiligt sich Tell nicht. Die Freiheit von Tyrannei genügt
ihm, die Frage nach dem wozu von Freiheit stellt sich ihm nicht.
Willhelm Tell könnte gut auch ein Kreter gewesen sein.
Obwohl einer der beiden besten
deutschen Dichter und damit ein Ausländer den
Wilhelm Tell geschrieben hat, lieben meine Landsleute, die Schweizer,
ihren Tell. Sie haben ihn echt eigentlich zu ihrem Nationalhelden
ernannt, oberster Repräsentant einer ganzen Reihe von Ahnen,
die mal Freiheitskämpfer waren, wenn auch meist in mythologisch
vernebelter Zeit, und die bis heute regelmäßig regelgerecht
gefeiert werden.
Man verzeihe mir die unangemessen
intensive Beschäftigung mit diesem winzigen Flecken in Europa,
aber es ist nun mal so, dass, nimmt man denn den Pathos, mit dem
die Freiheit und der Wille zu ihr beschworen werden, als Maßstab,
es Parallelen gibt zwischen Kreta und der Schweiz, mit dem kleinen
Unterschied, dass es in Kreta um Praxis ging und in der Schweiz
um Theorie, hatte es doch dieser Kleinstaat mit einer einzigartigen
Mischung aus Chuzpe und Glück geschafft, sich aus fast allen
kriegerischen Händeln der späteren europäischen
Geschichte herauszuhalten.
Was das Verständnis von
Freiheit allmählich etwas einstaubte. Wenn die Praxis hunderte
von Jahren zurückliegt, wird die Theorie mit der Zeit etwas
verschroben. Ein Liedermacher aus Bern hat in einem Mundartsong
schon vor Jahrzehnten eine unnachahmliche Beschreibung dieses
Phänomens geliefert: Auf der Bühne des Saals der Dorfkneipe
wird als Laientheater der Wilhelm Tell aufgeführt. Mitten
drin verwechseln zwei Darsteller das Stück mit der Realität
und geraten sich buchstäblich in die Haare. Das Publikum
ergreift Partei und bald ist die schönste Prügelei im
Gange. Der lakonische Schlusskommentar zum Geschehen rund um den
Wilhelm Tell lautet, zunächst in Berndeutsch: "Sie würdet
dFreiheit gwünne, we si däwäg zgwünne
wär!" Sie würden die Freiheit gewinnen,
wenn sie auf diese Weise zu gewinnen wäre.
Dieses Kompliment kann man
zweifellos auch den Kretern machen, und vermutlich ganz Europa,
doch es ist ein zweifelhaftes Kompliment, weil die Freiheit nun
mal nicht mehr auf diese Weise zu gewinnen ist. Sicher, das Thema
"Freiheit von" ist nicht vom Tisch, es gibt eine Reihe
von alten und zusätzlich ein paar neue Bedrohungen unserer
Freiheit, denen gegenüber Wachsamkeit sich sicher lohnt,
wobei es immer zu bedenken gilt, dass selbsternannte Verteidiger
der Freiheit sich manchmal als deren ärgste Feinde entpuppen
können. Doch nehmt Alles nur in Allem haben wir in Europa
heute ein bisher unbekanntes Maß an Freiheit erreicht. Fragen
Sie im Zweifelsfalle einen Kreter.
Doch damit stellt sich die
Frage, wie wir diese unsere mühsam genug errungene Freiheit
sinnvoll nutzen, umso drängender. Dass dies keineswegs automatisch
geschieht, lässt sich an Kreta sehr schön zeigen: Kaum
hatten die wackeren Machos sich wieder ein Stückchen Freiheit
erkämpft, gingen sie nach Hause, um ihre rigiden Moralvorstellungen
zu pflegen. Sprich zum Beispiel ihre Frauen zu prügeln und
zu demütigen.
Ob und wie ausgeprägt
das noch immer der Fall ist, wage ich nicht zu beurteilen. Deutlich
sichtbar ist dagegen, wie einige auch nicht unbedingt empfehlenswerte
"Werte" eine zweifelhafte Antwort auf die Frage "Freiheit
wozu?" geben. Materielle Gier etwa man kann hier von
einer alten Frau im Gemüseladen übers Ohr gehauen werden,
der man zugetraut hätte, sie vertrete noch ganz die alten
Werte der Gastfreundschaft. Oder Faulheit ganze Straßenzüge
können zweireihig zugeparkt sein, weil alle Autobesitzer
unbedingt direkt vor die Ladentür fahren müssen.
Das sind keine auf Kreta beschränkte
Phänomene, bewahre, sondern vielmehr vermutlich ganz natürliche
Reaktionen der Menschen, wenn sie erst einmal ein bestimmtes Maß
an Freiheit genießen. Dann will man ganz einfach zunächst
mal ein möglichst angenehmes und bequemes Leben. Und Kreta
hat auf dem Gebiet von Konsum und materiellem Besitz sicher noch
einiges aufzuholen.
Eines Tages aber wird man
auch hier so weit sein wie jetzt schon in weiten Teilen des alten
Europas: Es stellen sich Sättigungstendenzen ein. Die Menschen
erkennen, dass immer noch mehr Konsum sie nicht glücklicher
macht, sondern sie im Gegenteil mit überflüssigem Ballast
belastet. Und erst noch zögerlich, dann immer drängender
beginnen sie sich zu fragen, ob Konsumfreiheit wirklich alles
sei, was sie sich in Sachen Freiheit vorstellen können.
Eine gesamteuropäische
Antwort auf diese Frage ist nicht zu erwarten, dazu setzt Europa
viel zu sehr auf die Individualität von Lebensentwürfen.
Völlig zu Recht übrigens, eine Freiheit, die nicht persönlich
und damit individuell verschieden genutzt werden kann, verdient
diese Bezeichnung nicht. Doch weil die Menschen nicht nur verschieden
sind, sondern in vielem auch gleich, ist die Frage nach einem
sinnvollen Wozu der Freiheit immer auch eine gemeinsame.
Es braucht nicht besonders
viel Phantasie, um sich auszumalen, in welche Richtung sich diese
Suche bewegen wird. Lebensqualität zum Beispiel könnte
ein Projekt werden, das unsere Freiheiten sinnvoll nutzt. Dabei
dominieren noch die Fragen: Wenn Konsum nicht mehr Lebensqualität
bringt, was dann? Gibt es eigene Lebensqualität ohne Lebensqualität
der anderen? Wie findet man raus, was für einen selbst Lebensqualität
bedeutet? Was kann der Einzelne tun, um Lebensqualitätskiller
zu vermeiden und Lebensqualitätsförderer zu gewinnen?
Was kann und muss eine Gesellschaft tun, um die Lebensqualität
der Menschen zu verbessern?
Auch die Frage, nach welchen
Werten wir unser Leben ausrichten wollen, wird sich vermehrt stellen,
ebenso wie Sinnfragen aller Art. Schon die Tatsache, dass wir
gerade in Europa immer älter werden, legt es nahe, dass wir
uns diesen Fragen rund um die Kernfrage, wozu wir unsere groß
gewordenen Freiheiten eigentlich nutzen, vermehrt stellen werden.
Einfach im Kaffeehaus zu sitzen, mit einer Perlenkette in der
Hand zu spielen und ein wenig über Fußball und Politik
zu plaudern, wie es die alten Männer auf Kreta tun, wird
den wenigsten reichen.
Manchmal stelle ich mir Europa
vor, die von Zeus in Stierform nach Kreta entführte Königstochter
aus Phönizien, wie sie alt geworden unter einem Baum im Schatten
sitzt und über ihr Leben sinniert. Ich bin überzeugt,
sie ist im Laufe der Jahre reifer und weiser geworden und hat
aufgehört, über die ihr in ferner Jugend geraubte Freiheit
zu jammern. Sie hat gelernt, dass es Freiheit im absoluten Sinne
ohnehin nicht gibt, weil wir immer abhängig sind, von Luft
und Wasser ebenso wie von anderen Menschen und einer funktionierenden
Infrastruktur. Und zugleich hat sie gelernt, die verbliebenen
Freiheitsspielräume zu erkennen und sinnvoll zu nutzen. Jetzt
zum Beispiel, indem sie über ihr Leben blickt und erkennt,
dass sie es ist, die darüber entscheidet, wie sie sich ihr
Leben erzählt. Sie ist frei, es als einziges Jammertal zu
sehen, oder aber als ein letztlich sinnvolles Ganzes, in dem sie
die Chance genutzt hat, die zu werden, die sie immer war.
Auch unser guter alter Kontinent
Europa könnte aufhören, darüber zu jammern, wie
alt er geworden sei und wie sehr ihm die hungrige junge Konkurrenz
im Zeichen der Globalisierung zusetze. Europa könnte vielmehr
die darin liegenden Freiheitsspielräume erkennen und nutzen,
jene Freiheiten des Alters, die daraus erwachsen, dass man vieles
bereits hinter sich hat und beispielsweise keinen Drang mehr verspürt,
ständig zu wachsen und damit sich oder anderen zu beweisen,
wie gut man sei.
Dass junge Europäerinnen
und Europäer, in annähernd gesättigten materiellen
Welten aufgewachsen, weniger Drive und Power haben als ihre Altersgenossen
in China, ist nicht allzu erstaunlich. Und dass man in Shanghai
nur ungläubig den Kopf schüttelt, wenn ein Europäer
etwas von der europäischen Diskussion über "work-life-balance"
erzählt, spricht nicht unbedingt gegen Europa. Mag sein,
dass es sich dabei um Luxusprobleme handelt, aber der Umstand,
dass wir uns in Europa solche Probleme leisten können und
leisten wollen, ist ein untrügliches Zeichen für die
hiesige Lebensqualität.
Und für die europäischen
Freiheiten. Wir können nämlich selber entscheiden, ob
wir uns in sechzehnstündige Arbeitstage stürzen, um
uns gegen die Arbeitsameisen aus dem fernen Osten zu behaupten,
oder ob wir stattdessen unsere materiellen Ansprüche etwas
reduzieren und dafür unsere Lebensqualität pflegen,
was etwa bedeuten könnte, "not harder, but smarter"
zu arbeiten. Also das zu tun, was uns wirklich liegt, und das
genau deshalb dafür so gut, dass wir davon leben können.
Ob das bereits alle Europäerinnen
und Europäer wissen, darf bezweifelt werden. Freiheit wird
schnell selbstverständlich und damit wie alles Selbstverständliche
leicht übersehen. Weil wir in Europa wie auf Kreta seit ein
paar Jahrzehnten nicht mehr um unsere Freiheit von etwas kämpfen
mussten, sehen wir oft gar nicht mehr, was sie uns für Möglichkeiten
bietet. Wenn Europa eine Zukunft in Freiheit haben will, muss
es sich dessen wieder bewusst werden.
Von Kreta konnte Europa lange
Zeit lernen, wozu ein unbedingter Wille zur Freiheit von Fremdbestimmung
fähig ist. Wozu es seine Freiheiten in Zukunft sinnvoll nutzen
will, muss Europa jetzt selber wissen. Oder besser: Alle Europäerinnen
und Europäer müssen es für sich selber herausfinden.
Natürlich auch die Kreter.