Übersetzungskunst
Wenn der Besucher von Kreta
sich genug gewundert hat über das, was da ist, kann er anfangen,
sich auch über das zu wundern, was nicht da ist. Während
etwa auf Korsika oder im Balkan alle möglichen Kleingruppen
darum kämpfen, unabhängig zu werden und einen eigenen
Staat zu gründen, fehlen solche Bestrebungen auf Kreta völlig.
Dabei war Kreta mal autonom,
wenn auch unter dem Protektorat von vier europäischen Großmächten,
nämlich zwischen 1898, als die Türken endgültig
abziehen mussten, und 1913. Damals wurde der Wunsch Kretas erfüllt,
sich mit dem griechischen Festland zu vereinigen eine Vereinigung
notabene, die es seit der Antike nicht mehr gegeben hatte. Und
dennoch war den Kretern klar, dass sie Teil Griechenlands werden
wollten.
Der Grund dafür ist leicht
zu finden. Es ist die gemeinsame Sprache, und damit auch ein großes
Stück gemeinsamer Kultur. Dieses Motiv, jedenfalls, was die
Sprache betrifft, galt sicher nicht mehr, als Griechenland 1981
der EU beitrat. Dort sind die Griechen und mit ihnen die Kreter
Teil eines babylonischen Sprachengemischs. Europa hat nun mal
keine einheitliche und damit verbindende Sprache wie andere große
Gebilde wie etwa (bisher) die USA oder Russland. Stattdessen gibt
es in Europa eine wahrhaft bunte Vielfalt von Sprachen, deren
Vertreterinnen und Vertreter gar nicht daran denken, diese zugunsten
einer Einheitssprache aufzugeben.
Das führt, selbst wenn
in der EU einige Sprachen gleicher sind als die anderen, zu einem
enormen Bedarf an Übersetzungen. Dokumente und Konferenzen
wollen hinüben wie herüben übersetzt sein, und
das wiederum gibt einem ganzen Heer von Übersetzern und Übersetzerinnen
Arbeit und Brot, was man je nach Perspektive als unnötigen
Leerlauf oder als sinnvolle beschäftigungspolitische Maßnahme
deuten kann.
Wie dem auch sei, die hohe
Kunst des Übersetzens verdient unsere volle Hochachtung.
Dass Übersetzen mehr ist als eine mechanische Eins-zu-Eins-Übertragung,
sieht man an jeder zweiten Gebrauchsanleitung und an den seltsamen
Texten, die Übersetzungscomputer noch immer produzieren.
Gute Übersetzer bewegen sich vielmehr in zwei Sprachwelten,
ohne sich mit der einen oder anderen zu identifizieren. Stattdessen
versuchen sie mit ausgeprägtem Bewusstsein dafür, wie
sehr eine Sprachkultur die Bedeutung von Wörtern oder Sätzen
prägt, der einen Welt so viel wie möglich von der anderen
zu vermitteln, wissend, dass dies immer ein unvollkommenes Werk
bleiben muss.
Das verlangt von den Übersetzern
enorme Aufmerksamkeit und Konzentration, gibt ihnen aber auch
etwas zurück. Indem sie sich nämlich in zwei oder mehr
Welten gleichermaßen bewegen und sich darin auskennen, erhalten
sie die Gelegenheit, das für sie Beste aus allen Welten auszuwählen
und zu einer persönlichen Mischung zu verbinden. Die Rolle
des Übersetzers verschafft also zusätzliche Spielräume
bei der Entwicklung der eigenen Identität.
Europa hat gelernt, dass man
wohl zu wenig, aber kaum je zu viele Übersetzer haben kann.
Und genau darin liegt eine große Chance für die Zukunft
unseres Kontinents im globalen Kräftespiel. Weil Europa sich
in der Rolle des Übersetzers auskennt, kann es auch deren
Vorteile nutzen und in sich das Beste aus allen Welten vereinen.
Das hat es natürlich
längst getan. Zwischen den Kulturen der USA mit ihrem ausgeprägten
Individualismus und jenen des fernen Ostens mit ihrem ebenso ausgeprägten
Kollektivismus hat Europa seine eigene Vorstellung davon entwickelt,
was Lebensqualität ausmacht, nämlich eine untrennbare
Mischung aus Eigen-Sinn und Miteinander. Selbstverwirklichung,
so hat man hier zu Lande gelernt, geht nicht ohne ein intaktes
soziales Umfeld jenseits der romantischen Verklärung des
einsamen Cowboys oder des alles Individuelle vereinnahmenden Clans.
Einheit in der Vielfalt heißt
der einzige Grundsatz, aus dem sich Europa entwickeln konnte und
weiter entwickeln können wird. So unterschiedlich seine Sprachen
und Kulturen auch sein mögen, so sehr gibt es einige gemeinsame
Vorstellungen davon, was ein gutes Leben und Zusammenleben ausmacht.
Der Rest ist Zugabe, nämlich die Freude daran, wie viele
Wege nach Rom führen können. Oder die Freude an der
Artenvielfalt in diesem europäischen Biotop der kulturellen
Evolution.
Artenvielfalt, so lernen wir
aus der biologischen Evolution, bietet weit bessere Überlebenschancen
für ein Biotop als ein Einheitsbrei, und das ist in der kulturellen
Evolution keinen Deut anders. Die Entwicklung einer ausgeprägten
Übersetzungskunst ist der Preis, den Europa für diesen
evolutionären Vorteil zahlen muss. Und der Preis, den es
dafür erhält.
Denn jede halbwegs gelungene
Übersetzung ermöglicht den Zugang zu einer anderen geistigen
Welt, verweist auf Gemeinsamkeiten ebenso wie auf Unterschiede,
lässt vielfältige Zusammenhänge und Querbezüge
erkennen. Kurzum: Die holde Kunst der Übersetzung hat eine
ungemein bewusstseinserweiternde Wirkung.
Und trägt damit bei zu
einem kreativen Klima. Kreativität besteht ja heut zu Tage
kaum noch in der Erfindung von etwas völlig Neuem, noch nie
da Gewesenen, sondern vielmehr in der neuen Kombination von schon
vorhandenen Elementen. Zu je mehr solcher Elemente wir Zugang
haben, desto größer werden die Variationsmöglichkeiten
und damit das kreative Potenzial. Übersetzer mit ihrem Zugang
zu unterschiedlichen Welten bilden deshalb ein besonders kreatives
Potenzial.
Womit streng logisch bewiesen
wäre, dass Europa mit seiner Kultur der Übersetzungskunst
ein hervorragendes kreatives Biotop bildet. Und damit eine glänzende
Zukunft hat denn die Welt lechzt nach kreativen Ideen.
Natürlich werden sich nicht alle Angehörigen der weltweit
erstarkenden Kreativen Klasse in Europa versammeln, aber wenn
sich unser guter alter Kontinent auf seine Stärken besinnt,
ist nicht daran zu zweifeln, dass sich ein relevanter Teil von
ihr gerade hier am wohlsten fühlen wird. Und davon wird Europa
noch eine ganze Weile ganz gut leben können.
Ob die phönizische Königstochter
Europa bei ihrem Meeresritt auf dem in einen Stier verwandelten
griechischen Götterboss Zeus einen Übersetzer brauchte,
ist nicht überliefert. Fest steht, dass Kreta, wo Europa
schließlich landete, nicht zur Wiege der europäischen
Kultur hätte werden können, wenn es nicht vielfältigen
Einflüssen aus allen Richtungen ausgesetzt gewesen wäre.
Und das wiederum ging sicher nicht ohne eine hoch entwickelte
Übersetzungskunst. Womit der Rückblick auf die Wiege
Europas in Kreta einmal mehr zur Vorschau auf eine gedeihliche
europäische Zukunft werden könnte.