Die Stimme der Evolution
Langsam, aber sicher setzt
sich der Gedanke durch, die Evolution sei mit der Entwicklung
der biologischen Arten keineswegs am Ende ihres Wirkens angekommen,
sondern habe in Form der kulturellen Evolution ein neues Spielfeld
gefunden. Auch die Entwicklung von Kultur, was in diesem Zusammenhang
alles umfasst, was das menschliche Leben und Zusammenleben regelt,
ist gemäß dieser Idee ein evolutionärer Prozess
und folgt folglich den Spielregeln der Evolution.
Auf Kreta können wir
die Stimme der Evolution also nicht nur beim Betrachten von Pflanzen
und Tieren hören, sondern auch bei der Betrachtung der Kulturgeschichte.
Und zwar, weil Kreta als Wiege der europäischen Zivilisation
gilt, besonders beim Studium der Anfänge vor dreieinhalb
Tausend Jahren. Wobei wir zwei Hauptprinzipien der Evolution kennen
lernen: Vielfalt und Kombination.
Kulturelle Vielfalt gab es
schon damals in der östlichen Ecke des Mittelmeers. Neu war,
dass Kreta zum ersten Mal einen systematischen Austausch zwischen
diesen Kulturen organisierte - und davon am meisten profitierte.
Wer im Netzknoten sitzt, hat Zugang zu einer Vielfalt von Gütern
und kulturellen Fertigkeiten und kann sich aus dieser Vielfalt
das Beste heraus suchen. Für die Zukunft Europas im langfristigen
friedlichen Wettbewerb der Kontinente könnte dies ein Fingerzeig
sein: In einer vernetzten Welt Netzknoten zu sein, der den Austausch
zwischen den Kulturen organisiert, ist eine attraktive Rolle.
Größere Gesellschaften
und Kulturen, die auf irgendeinem Prinzip der Einheit beruhen,
können diese Rolle schlecht ausfüllen, weil sie dafür
keine internen Erfahrungen besitzen. Diese Gefahr ist im Falle
von Europa sicher nicht gegeben. Europas Geschichte ist eine der
Vielfalt. Denken wir beispielsweise nur daran, dass über
Jahrhunderte gleichzeitig straff zentralistisch geführte
Gebilde wie Frankreich und chaotische Flickenteppiche wie das
alte deutsche Reich existierten, dann wird klar: In Europa hat
die kulturelle Evolution vielfältige und unterschiedliche
"Arten" und "Gattungen" geschaffen.
Das hat nicht immer allen
gepasst. In Anwandlungen von Größenwahn gab es immer
wieder Versuche, selber in die Rolle der Evolution zu schlüpfen
und die Entwicklung von Gesellschaft und Kultur nach eigenen Vorstellungen
zu steuern, notfalls auch mit Gewalt. Nationalsozialismus und
Kommunismus sind europäische Erfindungen, die sich mit einem
Gewaltakt gegen die eigentlichen europäischen Entwicklungstraditionen
stellten. Es war, unter welchen Vorzeichen auch immer, der Versuch,
die vorhandene Artenvielfalt durch eine einzige einheitliche Art
zu ersetzen, im schlimmsten Fall gar durch eine Einheitsrasse.
All diese Versuche sind bekanntlich
grandios gescheitert, immer unter Hinterlassung schrecklicher
Opfer. Und wie so oft wären diese zu vermeiden gewesen, hätte
man vorher etwas genauer hingeguckt. Dann hätte man schnell
festgestellt, dass der Versuch, die Entwicklung einer Gesellschaft
oder Kultur zentral zu steuern, zum vornherein zum Scheitern verurteilt
ist weil es in der Evolution keine zentrale Steuerung gibt.
Weder die biologische noch
die kulturelle Evolution verläuft nach einem vornher festgelegten
Masterplan, zu dessen Realisierung man einfach die richtigen Hebel
und Knöpfe drucken muss. Vielmehr wirkt die Evolution nach
dem Prinzip der Selbstorganisation.
Die Vorstellung, dass komplexe
soziale Systeme sich selbst organisieren, nach einigen einfachen
Regeln, aber ohne vorhersehbares Resultat, versetzt natürlich
auf Steuerung und Kontrolle fixierte Manager allenthalben in Angst
und Schrecken. Was, so fragen sie, geschieht mit uns, wenn der
Laden auch von selbst läuft? Umgekehrt freut die Botschaft
die Faulen aller Länder, die glauben, sie könnten folglich
die Hände in den Schoß legen und das Leben genießen.
Das Bild einer Maschine, die
wie geschmiert ganz von selbst läuft, trifft die Idee der
Selbstorganisation natürlich auch noch nicht ganz. Menschliche
soziale Gebilde sind nun mal keine Maschinen, sondern Organismen.
Sie leben von der Aktivität ihrer einzelnen Teile und vom
Austausch zwischen diesen. Doch wie in einem Organismus erfolgt
dieses Zusammenspiel gleichsam von unten nach oben, ohne dass
es eine zentrale Steuerungsinstanz gäbe. Unser Gehirn funktioniert
zum Beispiel so, jedenfalls hat darin bisher niemand eine Teilinstanz
entdeckt, die den ganzen komplexen Rest hierarchisch steuert wie
ein General eine Armee.
Natürlich hat Selbstorganisation
für uns Menschen einen entscheidenden "Nachteil":
Mit unseren beschränkten geistigen Möglichkeiten können
wir dieses hoch komplexe Spiel nie ganz durchschauen und verstehen
und damit eben auch nicht kontrollieren. Es bleibt uns
"nur" die Beobachtung, dass sie offenbar, biologisch
wie kulturell, hervorragend funktioniert. Und daraus wiederum
können wir das Vertrauen gewinnen, das werde auch weiterhin
so sein, wenn auch ohne jeden Garantieanspruch.
Europa hat diese Lektion kapiert,
auch wenn sein Lernweg der denkbar härteste war. Als man
nämlich nach dem zweiten Weltkrieg daran ging, künftige
innereuropäische Kriege durch eine Annäherung der bisherigen
Kontrahenten zu verhindern, indem man europäische Institutionen
schuf, geschah dies nicht, indem man eine klare und konkrete Zielsetzung
im Sinne eines Masterplans formulierte. Vielmehr war die Strategie,
jeweils immer nur einen Schritt in die richtige Richtung zu tun
und dann abzuwarten, was daraus wurde, ehe man sich an den nächsten
Schritt machte.
Sicher, auch dabei gab und
gibt es gegenläufige Tendenzen in Form von Versuchen, den
Prozess der europäischen Einigung auf ein einheitliches Ziel
hin auszurichten. Glücklicherweise aber haben die Protagonisten
solcher Einheitslösungen, egal ob unter Politikern oder Brüsseler
Bürokraten, nie genügend Macht, um die natürlichen
Gegenkräfte zu überwinden, welche nicht vom Prinzip
der Vielfalt ablassen wollten.
Einheit in Vielfalt ist der
europäische Weg, und Selbstorganisation sein Prinzip. Wenn
es denn eine Zielsetzung dafür gibt, dann heißt sie
so, wie es Willy Brandt einst für Deutschland formuliert
hatte: Es soll zusammen wachsen, was zusammen gehört.
Entscheidend dabei ist das
kleine Wörtchen "wachsen". Es geht bei diesem Einigungsprozess
nicht darum, Bauklötze oder Maschinenteile zusammenzufügen,
es geht um organisches Wachsen. Wer also an diesem Prozess mitarbeitet,
tut dies nicht in der Rolle des Mechanikers, sondern in jener
des Gärtners, der weiß, dass man Wachstum fördern
oder behindern kann, aber niemals befehlen oder verbieten. Entweder
etwas wächst von allein, oder es wächst nicht.
Dass eine solche natürlich,
nach dem Prinzip der Selbstorganisation ablaufende kulturelle
Evolution keine wohl geordneten Blumenrabatte hervorbringt, sondern
einen oft genug chaotisch wirkenden Wildwuchs, versteht sich von
selbst. Und dafür können wir dankbar sein. Dass Monokulturen
für den Kampf ums Überleben viel schlechter gewappnet
sind als Mischkulturen, hat sich nämlich mittlerweile herumgesprochen.
Fassen wir den Gedanken ruhig
ins Auge: Auch Europa kämpft ums Überleben. Und da ist
es immer gut, sich auf seine Stärken zu besinnen. Chaotischer
Wildwuchs kann ein solcher sein. Er führt nämlich zu
einer Vielzahl von Lösungen, die untereinander einerseits
im Wettbewerb stehen, und die andererseits auch das unentbehrliche
Rohmaterial für neue Kombinationen bilden. Eine interne Vielfalt
ist also ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.
Wie sagte neulich ein kretischer
Dichter: "Auf Kreta ist jedes Dorf wie ein eigenes Land."
Und doch zweifelt niemand daran, dass Kreta auch eine Einheit
bildet. Und zwar eine organisch gewachsene, vielfältigen
inneren und äußeren Einflüssen ausgesetzte, eine
erlittene und erkämpfte und zugleich geschenkte Einheit.
Klingt doch exakt auch wie eine Beschreibung von Europa, oder?
Wandlung und Entwicklung als
natürlich und willkommen zu betrachten und dabei zugleich
auf die eigenen Kräfte zu bauen wie auf die Weisheit der
kulturellen Evolution mit ihrer Selbstorganisation zu vertrauen,
ist eine reife Leistung. Europa ist auf bestem Weg dazu. Es bestehen
also begründete Aussichten, dass man dereinst in hundert
Jahren, wenn man auf die Rolle Europas in der Welt im 21. Jahrhundert
zurück blickt, zum Schluss kommen wird, Europa hätte
sich als der reife Kontinent erwiesen.
Hier auf Kreta sind die Wurzeln
für diese spezifisch europäische Spielart der kulturellen
Evolution zu finden. Heute ist diese Insel, um ehrlich zu sein,
eine ziemlich unbedeutende europäische Randregion. Ihre geografische
Bedeutung als Brücke zwischen Europa und den Nachbarkontinenten
Asien und Afrika ist im Zeitalter globaler digitaler Kommunikation
geschwunden.
Doch vielleicht ist gerade
Kretas Randlage eine Gelegenheit, gelegentlich in Ruhe und Abgeschiedenheit
zur Besinnung zu kommen. Kreta als Gedächtnisspeicher der
kulturellen Evolution Europas kann uns zu einem Bewusstsein davon
verhelfen, dass diese noch längst nicht zu Ende ist. Europas
Weg der Reifung geht weiter. Und wir können uns darauf freuen.