Gigerheimat: Worte
Kretische Europa-Essays

 

Europäische Zauberformel Entschleunigung

Die Gretchenfrage der europäischen Identität lautet längst nicht mehr wie in Goethes Faust "Wie hast du’s mit der Religion?" Diese Frage hat Europa mit Indifferenz beantwortet, das heißt, kollektiv ist Europa weitgehend säkularisiert, Religion ist zur Privatsache geworden, die im Leben des Individuums durchaus ihre Rolle spielen kann, ohne aber die gemeinsame Identität noch wesentlich zu beeinflussen.

Nein, die Gretchenfrage für das 21. Jahrhundert zielt jetzt direkt auf die grundlegenden Dimensionen unserer Existenz und lautet: "Wie hast du’s mit Raum und Zeit?" Über die künftige räumliche Orientierung Europas habe ich mich bereits ausgelassen (siehe "Inseln in der Insel"). Genauso wichtig wird die zeitliche Orientierung werden. Dazu habe ich neulich bemerkenswerte Ergebnisse der Befragung einer (deutschsprachigen) Bewusstseins-Elite gelesen, die man vermutlich auf ganz Europa übertragen kann. Demnach orientierte sich noch um die Jahrtausendwende eine Mehrheit primär an der Zukunft. Jetzt, einige Jahre später, liegt das Schwergewicht auf der Gegenwart. Und eine qualifizierte Minderheit, die wachsen wird, unterscheidet gar nicht mehr strikt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern erlebt für sich eine Art Fließzeit, in der gestern, heute und morgen weitgehend integriert sind.

Das ist ein zutiefst europäisches Konzept, das ein wichtiges Element der europäischen Profilierung im globalen Wettstreit der Kulturen werden könnte. Weder ganz rückwärts noch ganz vorwärts orientiert wie andere Kulturen, sondern ganz entspannt im Hier und Jetzt leben, ohne Vergangenheit und Zukunft aus dem Auge zu verlieren — das ist eine zeitliche Identität, die dem Lebensgefühl reifer Menschen entspricht. Oder eben eines reifen Kontinents.

Die Tatsache, dass Europa historisch gesehen alt ist und demografisch betrachtet immer älter wird, macht vielen Europäerinnen und Europäern Angst. Sie fürchten vor allem eines: den Wettbewerb um Geschwindigkeit zu verlieren. Von den drei olympischen Forderungen "höher, weiter, schneller" kann Europa die beiden ersten mangels Raum ohnehin nicht mehr erfüllen. Umso schwerer wiegt die Furcht, auch in Sachen Schnelligkeit abgehängt zu werden.

Die Formel "schneller = besser" ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Heut zu Tage fressen nicht mehr die Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen. Wer sich dem immer schnelleren Tempo des Wandels nicht anpasst, geht unter. Und so wächst der Druck, immer schneller zu arbeiten und zu leben. Wir strampeln immer heftiger, und das Hamsterrad dreht sich in rasendem Tempo.

Nun wissen wir alle aus persönlicher Erfahrung wie vom Spitzensport: Zunehmendes Alter macht nicht schneller. Das Gegenteil ist der Fall. Und so erlebt Europa den Schock des Vaters, den sein Sohn auf der Bergtour gerade zum ersten Mal locker abgehängt hat. Gut, bei den USA mussten wir uns längst daran gewöhnen, doch dass jetzt auch Asien daran ist, uns zu überholen, lässt die Ängste, wir würden im globalen Vergleich zu langsam, wacker köcheln.

Der Vater im erwähnten Beispiel kann seine letzte Puste zusammenkratzen, dem Sohn nachhetzen und so einen Herzinfarkt riskieren. Oder er kann sich ruhig auf einen Stein am Wegesrand setzen und die gewonnene Ruhe dazu nutzen, über die Frage nachzudenken, ob schneller wirklich immer besser ist. Das ist nämlich keineswegs ausgemacht. Stellen wir uns drei Typen vor, alle im Ort A. Ihre Aufgabe lautet gleich, nämlich nach B zu gelangen, um dort etwas Bestimmtes zu erledigen. Der erste Typ, ein junger, schneller Kerl, holt sich blitzschnell die Daten für die übliche Route von A nach B auf sein GPS-Gerät und saust los, schneller geht’s kaum.

Der zweite Typ, schon in Ehren ergraut, hat es weniger eilig. Er kennt, dank reichhaltiger Erfahrungen, nämlich eine sehr wirkungsvolle Abkürzung, die in den GPS-Daten nicht vermerkt ist. Er kann gemütlich noch einen Kaffee trinken und dann ohne Hast losziehen, er wird immer noch schneller in B sein als der erste Typ.

Und der dritte Typ? Er ist schon sehr alt, beinahe weise. Er prüft zunächst, ob es überhaupt Sinn macht, nach B zu gelangen. Könnte man das Ganze nicht viel einfacher und eleganter erledigen? Und verbessert es seine Lebensqualität, wenn er jetzt nach B fährt, wirklich? Und so kann es gut sein, dass der dritte Typ gleich in A bleibt. Einfach, weil ihm eine weitere Umdrehung des Hamsterrades wenig sinnvoll erscheint.

Die Frucht des Alters ist es, je nach Situation zwischen dem Verhalten der drei Typen wählen zu können. In der Jugend hat man fast keine andere Wahl, als von Sturm und Drang angetrieben vorwärts zu rasen. Im Alter braucht man das nicht mehr unbedingt, man hat es ausreichend erlebt und ausgekostet, kann sich jetzt in ruhigeren Gewässern langsamer tummeln. Warum sollte das nicht auch für ganze Kulturen gelten?

Europa hat bei dieser Wahl den großen Vorteil, dass es tatsächlich ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist. Das gilt nicht nur für die Prozesse der europäischen Einigung, sondern für das grundsätzliche Zeitgefühl. Einer der besten Reiseführer schreibt dazu in der Einleitung:

"Wer Griechenlands südlichste Region betritt lässt Mitteleuropa hinter sich. Kretas Lebensgefühl ist anders. Vergessen Sie Hektik und Stress — "sigà, sigà" (langsam, langsam) heißt das Motto. Die Kreter haben Zeit, ihr Leben ist geradezu darauf eingerichtet, sich Zeit zu nehmen. Zeit zum Essen, für den Wein, zum Plaudern, zum Musizieren, zum kennen Lernen."

Soweit das Klischee, das natürlich einen hohen Wahrheitsgehalt aufweist und deshalb einen wesentlichen Teil des Reizes ausmacht, den Kreta und andere südliche Gefilde auf gestresste Mitteleuropäer ausüben. Schon wegen der Hitze kommt hier keiner auf die Idee zu rasen, und man passt sich gerne dem gemächlicheren Tempo an, um nicht ohne Erstaunen festzustellen, dass es auch so geht. Und so singt man denn nach der Rückkehr aus dem Urlaub das Hohelied von der Wiederentdeckung der Langsamkeit. Nur zu Hause, da muss man sich leider, leider, wieder dem herrschenden Tempodiktat beugen.

Muss man wirklich? Oder könnte Europa da von seinem Rand Kreta vielleicht doch etwas lernen? Wenn wir das ernsthaft wollen, müssen wir uns das "Vorbild" zunächst genauer anschauen. Es ist ja nicht etwa so, dass ganz Kreta eine Kultur der Langsamkeit pflegen würde, wer das glaubt, muss sich nur mal auf die Straßen begeben, am schnellsten fahren dort meistens nicht die Touristen. Und wenn es darauf ankommt, können natürlich auch Kreter schnell reagieren.

Nein, "sigà, sigà" preist nicht einfach durchgängig die Langsamkeit, es handelt sich dabei vielmehr um ein Konzept des angemessenen Tempos. Jeder Prozess hat seine ihm angemessene Geschwindigkeit, und das gilt somit auch für jede Tätigkeit. Manche wollen schnell erledigt werden, andere brauchen mehr Zeit. Die Kunst besteht darin, jeweils diese angemessene Geschwindigkeit zu erkennen und sie dann auch zu pflegen.

Ein jedes Ding hat seine Zeit — das wussten wir schon, wenn wir es wissen wollten. Von Kreta können wir nun zusätzlich lernen, dass ein jedes Ding auch seine Geschwindigkeit hat. Was in seiner Konsequenz bedeutet, dass schneller keineswegs immer besser ist.

Weil wir in den letzten Jahrzehnten alles auf möglichst hohe Geschwindigkeit ausgerichtet haben, führt das Konzept des angemessenen Tempos zwangsläufig dazu, dass die durchschnittliche Geschwindigkeit sinkt. Wenn wir uns am Vorbild Kretas orientieren, werden wir in Vielem langsamer, und das ist gut so.

Langsamkeit hat zwei entscheidende Vorteile. Sie schafft zunächst überhaupt erst den Raum für so schöne Dinge wie Sorgfalt, Vertiefung, Differenzierung, in Ruhe auch über den Sinn unseres Tuns nachdenken können. Um es auf den Punkt zu bringen: In vielen Bereichen unseres Lebens ist Langsamkeit die unabdingbare Voraussetzung für Qualität.

Zum zweiten verhindert stetiges Tempobolzen und die damit verbundene hektische Aufgeregtheit mit Garantie jenen mentalen Zustand, den wir nicht nur für unser seelisches Wohlbefinden dringen brauchen, sondern der auch die beste Voraussetzung für die Bewältigung der Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft ist: Gelassenheit. Gelassenheit ist eine Frucht der Langsamkeit.

Genau diese Gelassenheit brauchen wir aber, um das Konzept der angemessenen Geschwindigkeit zu leben. Nur im Zustand der Gelassenheit können wir nämlich erkennen, was dringend ist und schnell erledigt werden muss, und was dagegen Zeit hat und braucht. Es braucht nicht viel Phantasie, um vorherzusagen, dass Europa wegen seiner älter werdenden Bevölkerung langsamer und damit gelassener werden wird. Mehr ältere Menschen bedeuten mehr Menschen, die sich dem Zwang, immer schneller werden zu müssen, nicht mehr beugen können, müssen und wollen. Und die stattdessen die Früchte der Langsamkeit erkennen und genießen, Qualität und Gelassenheit.

Ein reifes Europa wird erkennen, dass es schlicht und ergreifend keinen Sinn mehr macht, im globalen Geschwindigkeitswettbewerb mitzurasen. Seine Trümpfe werden vielmehr Qualität und Gelassenheit sein.

Was nicht bedeuten muss, sich ganz aus der Welt auszuklinken, das geht ohnehin nicht mehr. Nur wird die neue europäische Gelassenheit dazu beitragen, dass sich Europa in der Welt realistisch wahrnimmt und entsprechend handelt. Also da den Mut aufbringt, sich einzumischen, wo es etwas bewegen kann. Und dort gelassen akzeptiert, was ohnehin nicht zu ändern ist.

Europas Menschen sind längst daran, die Zauberformel Entschleunigung zu lernen. Nur Europas Politiker sind noch nicht so weit. Sie wollen immer noch möglichst schnell von A nach B gelangen, wobei dummerweise alles andere als klar ist, wo B eigentlich liegt. Geht es einfach um einen einheitlichen Raum ohne Schranken für die Wirtschaft? Soll in Europa alles überall gleich geregelt sein? Soll Europa gar zu einer Art Bonsai-Supermacht aufsteigen? Es gibt die unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ziel, und weil niemand Zeit hat, in Ruhe über diese Ziele nachzudenken, weil alle so schnell wie möglich an ihr Ziel gelangen wollen, entwickelt sich zwangsläufig ein ziemliches Chaos, das niemand mehr durchschaut, schon gar nicht die gewöhnlichen Europäerinnen und Europäer. Was unweigerlich dazu führen wird, dass diese Bürger und Bürgerinnen Europas "Halt!" sagen werden, wenn sie denn mal eine Gelegenheit dazu bekommen sollten.

Sie werden damit nicht Nein sagen zum Grundsatz der europäischen Einigung, niemand wünscht sich ernsthaft die Zustände vor der EU zurück. Sie werden ihre Regierenden damit vielmehr dezent darauf hinweisen, dass die angebliche Not der europäischen Langsamkeit in Wirklichkeit eine Tugend ist.

 

 

 

Die einzelnen Essays:

1. Inseln in der Insel

2. Pflanzliches Gedächtnis

3. Das wohltemperierte Europa

4. Kretische Freiheiten

5. Europäische Zauberformel Enschleunigung

6.Übersetzungskunst

7. Die Stimme der Evolution


Die sieben Essays gibt es (samt Bildern) auch als PDF-Datei. Wenn Sie diese gerne kostenlos zugesandt hätten, schicken Sie mir einfach ein Mail.


Mehr zu meinem aktuellen Kreta-Buch hier.

 

 

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