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von Andreas Giger: Kleine Blumen (Leseprobe, Kapitel 1)
Zurück zu den Wurzeln
Bevor er im leise vor sich hin brummenden Flugzeug
nach Heraklion endgültig wegdöste, ließ Xeno noch einmal
die Ereignisse Revue passieren, die ihn auf diese Reise geführt
hatten. (Mit Nachnamen hieß Xeno Vollenweider, doch aus Gründen,
die sich bald enthüllen werden, konzentrieren wir uns im Folgenden
auf seinen Vornamen.) Im Gegensatz zu jenem ihm unbekannten Dichter,
auf dessen Zitat Bring mich, bring mich nach Kreta und frag
nicht warum! er im Zuge seiner Reisevorbereitungen gestoßen
war, wusste Xeno genau, was ihn auf diese Insel brachte, zum ersten
Mal übrigens, obwohl er doch kürzlich die Vierzig auch schon
überschritten hatte.
Das war einer der Gründe, warum Xeno für
ein paar Wochen aus seiner Schweizer Kleinstadt weg wollte, in der er
es sich so weit ganz behaglich eingerichtet hatte. Zu behaglich vielleicht.
Was zu einer latenten Unzufriedenheit geführt hatte, zu einer vagen
Ahnung davon, das könne doch noch nicht alles gewesen sein. Gleichzeitig
spürte er auch, dass ihm nicht mehr alle Zeit der Welt blieb, um
seine Träume zu erfüllen, von denen er doch nicht einmal wusste,
wie sie überhaupt aussahen. Kurzum, Xeno steckte in einer veritablen
Krise der Lebensmitte. Oder so.
Jedenfalls hatte ihn diese dumpfe Gefühlsmischung
kürzlich bei einem Journalisten-Kongress kurzfristig in die Arme
(und das Bett) einer Kollegin getrieben, was er, ungeschickt, wie Männer
nun mal sind, vor seiner Lebensabschnittsbegleiterin nur unzulänglich
verborgen hatte, was wiederum diese kränkte und sie ihrerseits
dazu trieb, ihn hochkant aus der gemeinsamen Wohnung zu werfen.
Kurzfristig hatte er daraufhin Unterschlupf bei
einem Freund gefunden, was auf Dauer natürlich dazu führen
musste, dass man sich gegenseitig auf den Wecker ging, während
sich Xeno zugleich angesichts seiner Krisen nicht in der Lage fühlte,
für ein eigenes Dach über dem Kopf zu sorgen. Es hatte also
einiges dafür gesprochen, für ein paar Wochen abzuhauen, Distanz
zu gewinnen, Kräfte für einen Neuaufbruch zu sammeln. Oder,
wie Xeno es selbst formuliert hätte, etwas für seine Wellness
und Selfness zu tun.
In dieser Lage war ihm das Angebot der Chefredakteurin
von PHOENIX wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen, was auch
daran gelegen haben mochte, dass deren Vornamen Dorothea lautete. Das
war, wie er einmal von einer früheren Freundin desselben Namens
gelernt hatte, griechisch und bedeutete tatsächlich "Geschenk
Gottes". Mit Griechenland, genauer mit Kreta, hatte denn auch der
Auftrag zu tun. PHOENIX, ein leicht obskures Magazin für
Allzweck-Intellektuelle, plante nämlich ein Sonderheft über
Kreta, und zwar unter dem Motto Was können wir von der Wiege
lernen? Europäische Sinnsuche auf Kreta.
Nun muss man, um diesen Titel überhaupt zu
verstehen (geschweige denn, ihm irgendeinen Sinn abgewinnen zu können),
natürlich zunächst wissen, dass Kreta allgemein als die Wiege
der europäischen Kultur betrachtet wird, was angesichts eines durchschnittlich
eher mäßigen Zustands der Allgemeinbildung keineswegs als
selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, und dann noch darüber
informiert sein, dass Xeno just in einer Zeit nach Kreta reiste, als
der Prozess der europäischen Einigung angesichts von deutlichen
Neins der Franzosen und Holländer zur neuen EU-Verfassung tüchtig
ins Stocken geraten war, was natürlich zu einer Identitäts-
und Sinnkrise Europas geführt hatte. Das konnten nun wiederum Sie
nicht wissen. Egal, jetzt wissen Sies.
Wie dem auch sei, das Magazin wollte einen sinnstiftenden
Beitrag zu dieser Debatte liefern, indem es zurück zu den Wurzeln
ging, nach Kreta eben, um dort vielleicht auf ein paar neue europäische
Ideen zu kommen. Soweit ganz einleuchtend, fand Xeno, und mindestens
ebenso einleuchtend fand er es, dass die Chefredakteurin bei der Auswahl
unter den freien Mitarbeitern, die für den Job in Frage kamen,
auf ihn gekommen war, stand er doch im seiner Ansicht nach berechtigten
Ruf, nicht nur gelegentlich eine Idee zu haben, sondern diese auch noch
einigermaßen anständig formulieren zu können.
Der Auftrag lautete, sieben kleine Essays zur Frage
zu schreiben, welche Beiträge Kreta zu einer europäischen
Identität des 21. Jahrhunderts leisten könne. Wenn möglich,
so der Wunsch, sollte jeder Essay mit einem passenden Bild aus Kreta
illustriert werden. Xeno möge bitte selber für Bilder sorgen.
Ja, das hieße, sie selber zu machen, nicht selber zu kaufen, denn
weder für einen Fotografen noch für Archivbilder gäbe
es Geld. Und Xeno fotografiere doch in seiner Freizeit, wie sie wüsste,
ganz gut. Nein, ein Extrahonorar sei dafür nicht vorgesehen, das
sei im Gesamthonorar enthalten. Was doch insgesamt ein anständiger
Betrag sei.
Das fand Xeno zwar nicht, und fast schon empörend
empfand er die Einschränkung, das Honorar würde natürlich
nur fällig, wenn sie, die Dame Chefredakteurin, das Abgelieferte
für gut oder wenigstens genügend hielte, ansonsten bekäme
er nur den Vorschuss. Der wiederum würde gerade mal ausreichen,
um auf Kreta drei Wochen lang mehr oder weniger gut zu leben, und zu
Hause Miete und Strom zu bezahlen. Doch weil Xeno unbedingt weg wollte,
schwieg er zu diesen Bedingungen, die er normalerweise als ausbeuterisch
angeprangert hätte. Er hatte, dank einiger Ersparnisse und einer
kleinen Erbschaft, einige Reserven, die ihm ein Jahr lang das Überleben
auch ganz ohne Einkünfte erlaubt hätten, und so konnte er
es notfalls verschmerzen, dass außer dem Vorschuss nix herein
käme.
Wobei er keineswegs vorhatte, etwas anderes als
eine gute Arbeit abzuliefern. Das war er nicht nur seinem Ruf schuldig,
sondern auch seinen ziemlich strengen Vorstellungen darüber, was
man aus seinem Leben zu machen habe. Darüber hinaus wusste Xeno
natürlich auch, was Mann nun mal weiß, dass nämlich
in Lebensphasen, in denen Gefühle allzu lästig werden, eine
ordentliche Portion Arbeit immer noch die beste Ablenkung ist.
Das Thema Europa interessierte ihn durchaus auch,
wenngleich nicht brennend. Immerhin hielt er sich zu Gute, als Bürger
eines Landes inmitten der EU, das dort wohl noch geraume Zeit als Nichtmitglied
verharren würde, gewissermaßen einen Blick von außen
auf die Europäische Union werfen zu können, wohlwollend zwar,
aber doch mit jener Distanz, die manchmal einfach mehr sehen lässt.
Wobei, und das wollen wir auch nicht verkennen, die Distanz natürlich
eine mäßige ist, ist die Schweiz doch wohl nicht Mitglied
der EU, aber natürlich selbstverständlich Teil von Europa,
was manche Landsleute von Xeno, zu denen er nicht gehörte, geistig
ordentlich durcheinander brachte, weil sie beides miteinander verwechselten,
oder so ähnlich.
Xeno jedenfalls traute sich den Job zu. Was, wie
sich herausstellen sollte, nicht einer gewissen Tollkühnheit entbehrte.
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